Alles nur Wunschdenken
Es war einer der häufigsten Einwände in einer Umfrage unter Menschen, die dem christlichen Glauben kritisch gegenüberstehen: Religion ist eine Erfindung, die schwachen Menschen hilft, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Das ist eine harte, aber zumindest ehrliche Aussage. Die Personen in meinem Umfeld sind meist zu taktvoll, um mir direkt ins Gesicht zu sagen, was sie von meinem Glauben denken.
Tatsächlich ist mir der Glaube eine Hilfe, eine Stütze und eine Ermutigung – gerade dann, wenn ich mich angesichts persönlicher oder gesellschaftlicher Herausforderungen klein und machtlos fühle. Auch in der Psychologie hat man begonnen, den Glauben als hilfreiche «Ressource» zu betrachten.
Problematisch ist aber aus meiner Sicht, wenn der Glaube «nur» eine Ressource ist und nichts anderes. Die utilitaristische Vorstellung des Glaubens – also die Reduktion auf seine Nützlichkeit – blendet die Erfahrung vieler Christinnen und Christen aus, die Gott über längere Zeit als fern, schweigend und eben «nicht wirkungsvoll» erlebten, ohne dass sie ihren Glauben deswegen über Bord warfen.
Auch theologisch gesehen ist diese Sicht problematisch. Es ist ganz klar eine menschliche Tendenz, überall den eigenen Nutzen zu suchen, doch die Geschichten der Bibel zeichnen ein anderes Bild. Der christliche Gott ist anbetungswürdig, weil er Gott ist – und nicht, weil man sich so seine Gunst sichern und im Leben Erfolg haben kann. Das biblische Buch Hiob veranschaulicht dies sehr deutlich, wenn Hiob alles verliert, aber an seinem Glauben festhält. Auch wenn Jesus seine Jünger beruft, verspricht er ihnen keine Belohnung. Er sagt nur: «Folge du mir nach» – und sie tun es, einfach so.
Der zweite Teil des Einwands, dass der Glaube eine Erfindung sei, ist ein klassisches Argument von Religionskritikern wie Ludwig Feuerbach (1804-1872): «Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heisst, sondern der Mensch schuf […] Gott nach seinem Bilde.» Die Gläubigen schrieben Gott all diejenigen Eigenschaften zu, die sie selber gerne hätten.
Dagegen spricht, dass der christliche Glaube einen historischen Anspruch hat. Die Erforschung und historische Einordnung biblischer Texte ist ein wichtiger Aspekt der theologischen Arbeit. Auch im Credo bekennen wir einen Jesus, der wirklich gelebt hat «geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus».
Es stimmt, dass unsere Wahrnehmung von Erfahrungen und Wünschen geprägt ist. Das gilt auch im Hinblick auf den Glauben, zum Beispiel beim Lesen der Bibel. Picke ich nicht oft einfach heraus, was mir passt – und ignoriere, was schwierig oder unpassend erscheint? Entscheidend ist, dass diese Herangehensweise im christlichen Glauben stark kritisiert wird.
Der Theologe Paul Schütz (1891-1985) schreibt über die Stimme Gottes, die durch die Bibel spricht: «Um sie zu vernehmen, muss man hinhorchen. Und diese Stimme muss unbedingt eine andere und nicht die eigene sein. Es ist besser gar keine Stimme zu hören, als die eigene Stimme für die andere zu halten. Denn die leise Stimme muss uns etwas sagen, was wir uns selbst nicht sagen können. Nur um dieses Andern willen – das wir uns selbst nicht sagen können – hat die Bibel eine Bedeutung für uns.»