Von der Kraft der Erinnerung

 

Erinnerungen tauchen manchmal einfach so auf. Oder sie werden durch einen Geruch, eine Melodie, eine Bemerkung wachgerufen. Erinnerungen können wir auch aktiv auffrischen, etwa indem wir an den Ort unserer Kindheit zurückkehren.

Wie kommen Erinnerungen zustande?

Die Neurologie kann uns diesen faszinieren- den Vorgang im Gehirn beschreiben. Da werden Sinneseindrücke gebündelt und «wandern» als Erinnerung ins Langzeitgedächtnis, indem sie an verschiedenen Stellen im Gehirn «abgelegt» werden. Wir sollten uns das nicht wie die Archivablage von Protokollen in einem dicken Ordner vorstellen. Unsere Erinnerungen sind in neuronalen Netzwerken gespeichert und bleiben etwas Lebendiges. Ist eine Erinnerung erstmal abgespeichert, so ruht sich unser Gehirn nicht etwa aus, es bindet kontinuierlich neue Empfindungen und Erlebnisse zusammen und speichert diese weiter in der Grosshirnrinde. «Dies verändert auch abgespeicherte Erinnerungen (…), weil die dauernden Veränderungen im Gehirn lange existierende Aktivierungsmuster beeinflussen – und so die Gedächtnisinhalte verändern.» (Geiser)

Theologie des Gedenkens

Indem wir uns erinnern und unsere Geschichte erzählen, ordnen, deuten, ja verändern wir unsere Wirklichkeit. Wir verknüpfen gewisse Stränge neu, sehen manche Dinge in einem anderen Licht. Sich zu erinnern, wirkt! Im Alten Testament könnte man geradezu von einer «Theologie des Gedenkens» (Michel) sprechen. Dreiundfünfzig Mal erinnert sich Gott an Menschen und setzt damit etwas in Bewegung: «Gott aber dachte an Rahel … und öffnete ihren Schoss» (Gen. 30. 22).
Aber auch die Glaubenden sollen sich an die grossen Taten Gottes erinnern: «Und du sollst daran denken, dass du Sklave warst und dass dich der Herr, dein Gott, befreit hat» (Deut. 15. 15). Beim Erinnern sollen wir Heil und Unheil im Blickfeld haben. Richard von Weizsäcker zitiert 1985 in seiner epochalen Rede zum Gedenken an das Ende des 2. Weltkriegs einen jüdischen Mystiker:
«Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung.» Sich in Bezug auf die eigene Biografie, aber auch auf die gemeinsame Geschichte (als Paar, Familie, Kleingruppe, Gemeinde, Organisation) zu erinnern, setzt lösende Prozesse frei und kann als Erlösung empfunden werden. Der Versuch hingegen, Geschehenes abzuspalten, verlängert das Leiden, und bewusst verschwiegene Geheimnisse erhöhen das Risiko für ungute Wiederholungen.

Sich erinnern als geistliche Aufgabe

Für Glaubende kann Biografiearbeit ein wichtiger Teil ihres geistlichen Weges sein. Wir denken an Stationen unserer persönlichen oder gemeinsamen (Heils)Geschichte. Das wirkt klärend und setzt Dankbarkeit frei. «Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat» (Ps 103). Wir stellen uns auch der persönlichen oder gemeinsamen Unheilsgeschichte. Das macht uns schuld- und versöhnungsfähig. Wir nähern uns dem Scham-, Schmerz- und Schuldhaften in unserem Leben an der Hand des gekreuzigten Jesus. Er nimmt Scham, Schmerz und Schuld auf sich und ermöglicht uns einen Ausstieg aus der Täter- und/oder Opferposition.

Seht, ich schaffe Neues

Wer sich als Einzelner oder als Gruppe auf Biografiearbeit einlässt, eröffnet sich die Chance, aufgeräumt und ohne unnötigen Ballast nach vorn zu schauen. Wer sich mit Vergangenem aussöhnen kann, löst Bindungen, die ihn an Altes ketten wollen. Durch Integration stellt sich so etwas wie ein «heilvolles Vergessen» ein. Das widerspricht nur scheinbar einer guten Erinnerungskultur, denn Gott verspricht: «Denk nicht an das, was früher war. Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es, erkennt ihr es nicht?» (Jesaja 43. 19)