Rebekka und Michel Bieri schreiben im Tessin an der VBG-Geschichte weiter
Rebekka – was ist Michel für ein Mensch? Was schätzt du an ihm? Was hast du von ihm gelernt?
Michel ist ein kreativer, musikalischer, humorvoller, aktiver und zielgerichteter Mensch. Er gestaltet gerne und ist ein Querdenker. Ich schätze unsere spannenden Gespräche, Michels Humor, seine Ideen und seine Kochkünste. Gelernt habe ich von ihm das unternehmerische Denken, die Effizienz und auch eine gewisse Leichtigkeit.
Michel – wie würdest du Rebekka beschreiben? Was schätzt du an ihr? Was hat sie, was du nicht hast?
Rebekka hat ausgeprägte Stärken: Sie ist analytisch, sachlich und äusserst fleissig (zum Essen muss ich sie regelmässig telefonisch rufen). Als Mensch ist Rebekka zu tiefem Erbarmen fähig, sie ist loyal und kennt keine Versuchung zum Geschwätz über andere Menschen. In der Erziehung unserer Kinder ist Rebekka kaum und im Geschäft wohl noch nie laut geworden – diese Ruhe bewundere ich an ihr.
Ihr seid von eurer Persönlichkeit her recht verschieden. Wo erlebt ihr diese Unterschiede als Ergänzung, wo als Spannungsfeld?
Michel: Unter normalen Umständen sind wir ein Dream-Team, da wir uns optimal ergänzen. Sind wir im Flow, bringe ich Ideen, Konzepte und Energie ein, während Rebekka die nötige Sorgfalt, Prüfung und Verbesserung für die Umsetzung beisteuert.
Rebekka: In Stressmomenten mit vielen Unsicherheiten reagieren wir allerdings komplett gegensätzlich. Das fordert uns heraus, und es ist in solchen Situationen wichtig zu wissen, dass der Partner nicht alle Bedürfnisse abdecken muss. Gerade in arbeitsintensiven Zeiten und Engpässen ist es uns ein Anliegen, uns gegenseitig Freiräume zuzugestehen. Glücklicherweise sind wir beide sehr kommunikativ, was uns als Paar ermöglicht, kontinuierlich im Austausch zu bleiben.
2012 habt ihr die Leitung der VBG-Ferienzentren Casa Moscia und Campo Rasa übernommen. Was war damals ausschlaggebend für diesen doch überaus mutigen Schritt?
Wir wurden in einem Hotelbetrieb in Seewis GR zwischen Küche, Service und Büro zu einer Familie mit drei Kindern. In dieser gemeinsamen Aufgabe waren wir sehr gefordert, erlebten sie als sinnstiftend und erfüllend, waren aber auch fragend, ob dieser Lebensentwurf für die Familie nachhaltig gesund sei. Nach zehn Jahren haben wir unser Engagement in Seewis beendet, doch das Hotellerie-Fieber konnten wir nicht abschütteln. Als dann vonseiten der VBG die Anfrage kam, ob wir uns eine Rückkehr in die Hotellerie vorstellen könnten, waren wir verhalten offen. Dass wir den Schritt nach langen Diskussionen tatsächlich gewagt haben, basierte darauf, dass wir die neue Aufgabe im Tessin als Entwicklungschance für die ganze Familie empfanden und auf die Erfahrung eines bereits geglückten Wohnortwechsels zurückblicken konnten.
In den vergangenen zehn Jahren sind eure Kinder erwachsen geworden. Wie haben diese Jahre in Moscia euch als Familie geprägt? Was war bereichernd, was herausfordernd?
Obwohl wir unsere damals 9- bis 15-jährigen Kinder als stark genug für einen Wohnort- und Sprachwechsel einschätzten, bereitete uns deren Verpflanzung von der Deutschschweiz ins Tessin dennoch schlaflose Nächte. Weil wir sicherstellen wollten, dass sie diese Zäsur gut überstehen würden, holten wir uns Rat bei einem Psychologen. Er hat uns Mut gemacht. Die ersten Jahre waren dennoch hart für sie und für uns. Der kulturelle Unterschied zwischen Nord und Süd ist grösser als man denkt. In den Sommerferien haben unsere Kinder jeweils gerne im Betrieb mitgearbeitet, im Alltag zu Hause auch zwangsläufig die Freuden und Nöte von uns Eltern als Unternehmer mitbekommen.
Die Gefahr, Helikoptereltern zu sein, bestand nie, Schule und Alltag mussten effizient ablaufen. Wir haben unseren Kindern viel zugetraut, auf Vertrauen gesetzt und versucht, uns nicht mit anderen Eltern zu vergleichen.
Heute schauen wir in intensiven Gesprächen bei gutem Wein und feinem Essen mit unseren erwachsenen Kindern zurück. Dieses Reflektieren hilft bei der Verarbeitung, es ermöglicht Einsichten und vielleicht auch ein Stück Heilung. Wir bewundern unsere Kinder für alles, was sie geleistet und manchmal auch mitausgehalten haben. Wir freuen uns an ihren Persönlichkeiten und schätzen die Beziehung auf Augenhöhe. Dass wir miteinander und aneinander gewachsen sind, stimmt uns dankbar.
Als Gastgeber seid ihr nah dran an den Menschen, zumal ihr auch direkt vor Ort wohnt. Wie schützt ihr eure Grenzen?
Rebekka: Würden wir klar abgesteckte Zäune und einen Garten für uns allein brauchen, wären wir in Moscia am falschen Ort. Die Ganzheitlichkeit eines Lebens- und Wirkungsortes mit viel Sinn hat uns schon immer angesprochen. Diese Art zu leben ist herausfordernd, sie bietet aber auch viel Lebensqualität. Und letztlich entscheiden wir selber, mit welchen Ohren wir die Kommentare von Gästen – und sie kommen! – zur beobachteten Kaffeepause auf dem Balkon hören. Michel: Wir erachten auch in freundschaftlichen Beziehungen zu Gästen und Personal eine professionelle Distanz als nötig und hilfreich. Sie ist ein Zeichen von Respekt und Sorgfalt und muss die Qualität des Miteinanders nicht mindern. Das Wohnen am Arbeitsort hat im Übrigen auch viele Vorteile: Es ist äusserst effizient, ökologisch und ganzheitlich. Rebekka: Die meisten Gäste und das Team spüren die unsichtbare Grenze zwischen Hotel und Privatbereich intuitiv – und respektieren diese auch. Zudem ist ein kleines Haus im hintersten Val Lavizzara unser sporadischer Zufluchtsort.
Gestattet ihr uns einen Blick hinter die Kulissen? Wie gestaltet sich euer Alltag?
Wir schätzen die Vielfalt unserer Aufgaben: Im Arbeitsalltag beschäftigen uns Themen wie Personalführung, Gastronomie, Hotellerie und Spiritualität. Wir setzen uns mit Buchhaltung und Controlling, IT, Anfragen von Behörden und Entscheidungen zu Umbauten bis hin zu Marketing auseinander. Gespräche mit Gästen, das Halten von Andachten, musikalische Umrahmungen, Mithilfe bei Kursen, Konzeptarbeit und strategisches Planen gehören ebenso zu unserem Pflichtenheft wie das Lösen von Problemen. Die Wirtschaftlichkeit beispielsweise ist ein Dauerthema. Dass all dies nur mit vielen Arbeitsstunden zu bewältigen ist, versteht sich von selbst. Gerade die letzten vier Jahre mit Corona und anschliessender Bauzeit waren äussert intensiv und anstrengend.
Gemeinsam mit Andrea Signer-Plüss verantwortet ihr das Kursangebot der VBG. Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der Themen und Referenten?
Uns ist wichtig, dass die Gäste in unseren Häusern ganzheitlich auftanken können. Das Kursprogramm spielt dabei eine wichtige Rolle: Es soll Nahrung für die Seele bieten, gleichzeitig aber auch zum Denken anregen. In der Kursplanung versuchen wir, relevante Themen unserer Zeit aufzunehmen, zur Diskussion von Fragen an den christlichen Glauben einzuladen und einen methodisch vielfältigen Umgang mit der Bibel zu fördern. In unseren Kursen treffen Menschen mit unterschiedlichem charakterlichem, biografischem und theologischem Hintergrund aufeinander, teilen für ein paar Tage Glauben und Leben und lernen sich und Gott besser kennen. Das erachten wir als grosse Chance. Die Erwartung einiger Gäste, die VBG würde ihnen eine eindeutige, in Stein gemeisselte Theologie vermitteln, können und wollen wir aber nicht erfüllen. Wir verstehen den Glauben als etwas Dynamisches. Jesus lehrte unterwegs, und in der Apostelgeschichte werden die Christen «die des neuen Weges» genannt. Wir möchten von der Liebe Jesu her denken, Tiefgang mit Weitblick pflegen und eher den Dialog fördern, denn einen absoluten Wahrheitsanspruch geltend machen.
Gott spielt in eurem Leben eine zentrale Rolle. Wie hat sich euer Gottesbild über die Jahre verändert? Welche Bedeutung hat die Bibel für euch?
Michel: Der Glaube ist für mich ein Mysterium. Ich erlebe ihn als tragend in meinem Leben, gleichzeitig bleibt er auch unbegreiflich. Das Unterwegssein mit Gott hat eine Eigendynamik, es wirft immer wieder Fragen auf – und doch fühle ich mich auch in diesen Fragen getragen. In den letzten zwei Jahren habe ich mich definitiv mehr in Baupläne und Offerten als in die Bibel vertieft. Ehrlich gesagt finde ich Letztere oft schwer zu lesen und zu verstehen. Es gibt diese Momente, in denen die Bibel wegweisend in mein Leben spricht, meist aber muss ich mir den Zugang zu ihr erarbeiten. Rebekka: Unser Gottesbild hat sich über die letzten Jahre verändert. Unterwegssein steht im Mittelpunkt, immer wieder Umziehen wie im richtigen Leben, weniger Dogmatik, dafür mehr Barmherzigkeit. Fragen des Richtig und Falsch, Drinnen und Draussen treten in den Hintergrund. Uns ist die Theologie des Weges wichtig: Gott ist mit uns in unserem Leben unterwegs. Er ist barmherzig, gnädig und von grosser Güte und Treue. Dies zu wissen, hilft mir, wenn ich schwach bin, und lässt mich auch grosszügig gegenüber anderen Menschen sein.
Die vergangenen vier Jahre waren ein permanenter Ausnahmezustand: Zuerst die Pandemie, dann der Umbau in Moscia. Wie geht ihr mit Belastungen um? Was hilft euch, in herausfordernden Zeiten nicht den Mut zu verlieren?
Wir haben mehrfach den Mut verloren und wussten weder ein noch aus. Offensichtlich sind Entschlossenheit und Durchhaltevermögen – vielleicht auch ein zu stark ausgeprägtes Pflichtgefühl – aber Teil unserer DNA: So schnell geben wir nicht auf. Vermutlich prägt uns eine Erfahrung, die wir frisch verheiratet im Alter von zwanzig Jahren gemacht haben: Damals haben wir in Indien in einem Kinderheim gearbeitet und sind später durch Asien gereist. Jene Bilder und Erfahrungen haben unsere persönlichen Ansprüche, den Wunsch nach Befriedigung und Komfortzonen zwar nicht ausgelöscht, aber doch nachhaltig relativiert. Das hilft uns bis heute, mit Herausforderungen, Belastungen und Erfahrungen des Verzichts umzugehen. In den letzten vier Jahren mussten wir uns aus Kapazitätsgründen fokussieren, einschränken und vielerorts loslassen. Das ist nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Hilfreich waren Menschen: Unsere erwachsenen Kinder fragen regelmässig nach unserem Befinden. Das ist berührend und trägt. Unsere Mitarbeitenden haben ihr Bestes gegeben und so manche Unsicherheit mitausgehalten. Auch durch den Vorstand und die Leitung der VBG haben wir Unterstützung erfahren. Darüber hinaus hat Karin Fehr als Präsidentin der Baukommission Grossartiges geleistet.
Es ist Dezember. Weihnachten steht vor der Tür. Was bedeutet euch diese Zeit?
In diesem Jahr ist es ein Übergang von einer 7-jährigen Planungs- und Bauzeit in Moscia zurück zum regulären Betrieb. Wir werden nochmals unserer Kräfte bündeln und einen Schlussspurt hinlegen müssen. Die Weihnachtstage werden wir mit unseren Familien geniessen – bis dahin sollte die Ziellinie hoffentlich erreicht und die Freude im Vordergrund sein, dass die Bauetappe geschafft ist. Uns ist wichtig, das Jahr dankbar abzuschliessen. Wir sind dankbar für alle Menschen, die den Umbau der Casa Moscia ermöglicht und uns in dieser intensiven Zeit unterstützt haben, und wir freuen uns, dass wieder viele Gäste hier an diesem Ort ihre Ferien verbringen und dabei zur Ruhe finden und neu inspiriert werden können.