Warum der Neurobiologe William Newsome keinen Widerspruch zwischen Glaube und Wissenschaft sieht.

Am VBG-Studientag hast du über das Wesen des Menschen gesprochen. 
Was macht uns aus neurowissenschaftlicher Sicht einzigartig?

Zunächst einmal sind das die massiv vergrösserten Frontallappen des menschlichen Gehirns, aber auch die Fähigkeit zur Sprache, mit der rationales und abstraktes Denken verbunden sind.

Die Anatomie des Gehirns erklärt aber nicht alles. Menschen sind hypersoziale Wesen und leben eingebettet in eine bestimmte Kultur. In einer Gruppe verhalten sich Menschen ganz anders als wen sie isoliert und alleine leben. Die Lernfähigkeit des menschlichen Hirns bietet zwar die Voraussetzung für Kultur, aber mir scheint, dass es die Kultur selbst ist, die uns zu dem macht, was wir sind.

William Newsome ist Professor für Neurobiologie und Psychologie und leitet das Institut für Neurowissenschaft der Universität Stanford. Er besuchte die Schweiz im Rahmen einer durch die Templeton-Stiftung ermöglichten Vortragstournee mit der VBG.

Der Mensch ist also mehr 
als ein hochentwickeltes Tier?

Menschenaffen besitzen Merkmale, die den Vorläufern spezifisch menschlicher Eigenschaften wohl nicht unähnlich sind. Gleichzeitig sind verschiedene menschliche Eigenschaften unglaublich entwickelt: Sprache, soziales Verhalten, ästhetisches und spirituelles Bewusstsein, die Suche nach Bedeutung und Transzendenz, die Sorge für Kranke und Schwache.

Nimmt man diese Dinge zusammen, ergibt sich daraus nicht nur ein quantitativer, sondern ein qualitativer Unterschied.

Ist es möglich, dass künstliche Intelligenz einmal menschliche Züge annimmt?

Momentan ist künstliche Intelligenz in verschiedenen Bereichen weit entfernt von natürlicher Intelligenz. Ich kann mir aber vorstellen, dass künstliche Intelligenz dereinst menschenähnliche Züge annimmt – besonders, wenn sie in der Form von Robotern daherkommt, die ihre Umwelt entdecken und sich zu eigen machen müssen, um darin zu überleben.

Doch warum sollte ein Roboter, der von einer künstlichen Intelligenz gesteuert wird, überhaupt leben wollen? Das ist für mich ein Mysterium, auch bei Menschen: Woher kommen Dinge wie Motivation, Sehnsucht, Wille? Weshalb möchte ein Baby sich bewegen, Dinge greifen, sitzen, stehen?

Es ist für mich schwer vorstellbar, dass ein Algorithmus bei Robotern einmal etwas wie Sehnsucht imitieren kann. Aber wer weiss? Wir können sicher sein, dass schon in den nächsten Jahrzehnten die Entwicklungen in diesem Bereich massiv sein werden.

Hat dein Glaube Auswirkungen auf deine Arbeit als Neurowissenschaftler?

Meine wissenschaftlichen Projekte oder die Art und Weise, wie ich sie ausführe, werden durch meinen Glauben nicht direkt beeinflusst. Wenn ich aber vor einem Publikum spreche, dann ist es mir wichtig, immer vom ganzen Menschen zu sprechen.

Aus meiner Sicht ist es nicht die Aufgabe der Wissenschaft, komplexe Phänomene wie unser Denken auf die Bewegungen von Atomen zu reduzieren. Stattdessen sollten wir versuchen zu verstehen, wie verschiedene komplexe Mechanismen zusammenspielen, um anpassungsfähiges und intelligentes Verhalten hervorzubringen. In der Neurowissenschaft ist das Ganze – wie eigentlich in jedem komplexen System – entschieden grösser als die Summe seiner Teile.

Was sagst du zum Vorwurf, Glaube und Wissenschaft passen nicht zusammen?

Soweit ich weiss, hat noch keine wissenschaftliche Publikation zeigen können, dass der Glaube an Gott falsch ist. Auch die Ansicht, dass der Unglaube an Gott eine Voraussetzung für gute Forschung ist, lässt sich nicht halten. Es gibt viele ausgezeichnete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an Gott glauben.

Natürlich kann eine sehr konservative Leseart gewisser Texte zu Sichtweisen führen, die sich nicht mit Ergebnissen der Wissenschaft decken. Im Allgemeinen lassen sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse aber sehr gut integrieren. So wissen wir beispielsweise, dass das Universum zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden ist und nicht, wie man davor annahm, seit unendlicher Zeit bestand. Das deckt sich mit zentralen Aussagen der christlichen Weltanschauung.

Ein wirklicher Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft entsteht erst dort, wo die Wissenschaft zur Ideologie wird. Wenn es nicht mehr nur um die Erforschung der physischen Welt geht, sondern darum, dass Wissenschaft der beste und einzige Weg ist, Wissen zu erlangen. Diese Sichtweise ist kein Resultat wissenschaftlicher Forschung, sondern eine Annahme.

Auch vom Glauben könnte man sagen, 
er sei nur eine persönliche Annahme.

Die Wissenschaft zielt darauf, alle Erkenntnisse sozusagen in der dritten Person zu machen. Also so, dass sie mit dem richtigen Fachwissen und den richtigen Instrumenten überall auf der Welt reproduzierbar sind. Im Gegensatz dazu gehört zur Suche nach Sinn und Bedeutung immer auch die persönliche Erfahrung, sie geschieht per Definition in der ersten Person.

Das soll nicht heissen, dass wir unser Hirn beim Betreten einer Kirche abschalten sollen. Im Gegenteil: Es ist wichtig, die Wahrheitsansprüche religiöser Gemeinschaften kritisch zu betrachten und auch die Erfahrungen und Erlebnisse anderer Personen in unsere Überlegungen miteinzubeziehen.

Also ein denkender Glaube.

Genau. Wenn Paulus im ersten Korintherbrief über die Auferstehung von Jesus spricht, wendet er sich explizit an die Zweifelnden. Er legt seine Quellen offen und ermutigt dazu, sie zu überprüfen: «Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben.»1

Dieser Prozess geht bis heute weiter, wenn wir in lebendigen Kirchgemeinden über unsere eigenen Erfahrungen austauschen und sie mit den Erfahrungen von Christinnen und Christen aus den letzten Jahrhunderten vergleichen.

Welche Reaktionen erhältst du, wenn die Leute erfahren, dass du Christ bist?

Ganz unterschiedlich, von Begeisterung über Neugier bis zu offener Kritik. Ein Fakultätskollege sagte mir mal, dass die Kirche von Stanford gesprengt gehöre – ein solches Monument an die Irrationalität habe auf dem Campus einer Universität nichts zu suchen!

Grundsätzlich ist mein Glaube aber weder etwas, das ich zur Schau stelle, noch etwas, das ich zu verbergen versuche. Er ist einfach ein grundlegender Teil meiner Identität.

Wie bist du zum Schluss gekommen, dass der christliche Glaube wahr ist?

Das Leben als Christ, eingebettet in eine gesunde Kirche, bietet mir das höchste Mass an Hoffnung und Sinnhaftigkeit, das ich mir vorstellen kann. Wir leben in einer Welt, die heilig ist – wenn wir nur Augen zu sehen und Ohren zu hören haben. Meine Kirche bietet mir eine Gemeinschaft, die mich klarer sehen und hören lässt.

Verschiedene Bibeltexte, insbesondere das Leben und die Lehren von Jesus, sind von einer tiefen Wahrheit erfüllt. Sie geben mir Licht, Verständnis und Inspiration für meine Lebensreise. Ich identifiziere mich stark mit der Aussage von C.S. Lewis: «Ich halte den christlichen Glauben für wahr, so wie ich für wahr halte, dass die Sonne aufgegangen ist: Nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehe.»

Wie bist du Christ geworden?

Mein Vater und mein Grossvater waren Baptistenprediger, so dass der Glaube für mich so natürlich war wie essen und schlafen. Danach kam eine Zeit, in der ich diesen traditionellen Familienglauben kritisch betrachtet und hinterfragt habe.

In gewisser Weise geht dieser Prozess bis heute weiter. Ich bin nicht einfach ein Christ geworden, sondern bin noch immer im Werdegang begriffen. Jedes Jahr entdecke ich mehr.