«In Glaubensdingen empirisch vorgehen»

Sie forscht im Bereich der künstlichen Intelligenz – und ist eine Christin, die kein Blatt vor den Mund nimmt: Rosalind Picard, Professorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Auf Einladung der VBG hielt sie im April 2016 Referate an der Universität Bern und der ETH Zürich und traf sich mit christlichen Doktoranden und Dozierenden. Im Interview erklärt sie, wie ihr Glaube durch die wissenschaftliche Denkweise geprägt ist.

Rosalind Picard, du arbeitest an einer der renommiertesten Universitäten der Welt. Wie stehen die Menschen in deinem Umfeld zu Glaube und Religion?

Manche wollen auf keinen Fall damit in Verbindung gebracht werden und haben regelrecht Angst davor – meistens, weil sie ganz falsche Vorstellungen über den christlichen Glauben haben. Es gibt aber auch die, die sich aktiv damit auseinandersetzen. Ich kenne am MIT viele Christinnen und Christen, sowohl Studierende als auch Dozierende.

Ist es wichtig, die eigene Haltung zu reflektieren oder gar zu hinterfragen?

Das kritische Hinterfragen kann beides sein, ein Hindernis oder eine Hilfe. Ein atheistischer Kollege von mir behauptet, dass Religion jegliches Hinterfragen verbietet. Ich weiss nicht, wie er diese Aussage begründet. In der Bibel steht nirgends, wir sollten keine Fragen stellen – im Gegenteil. «Erwirb dir Weisheit! Erwirb dir Verstand!», heisst es im Buch der Sprüche.1

Prof. Rosalind W. Picard, Sc.D., leitet die von ihr gegründete Affective Computing Research Group am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Media Lab. Sie promovierte in Elektrotechnik und Informatik. Die Interviewfragen stellte Jonas Bärtschi.

Wir haben das Vorbild des Apostels Thomas, den Jesus mit all seinen Fragen ernst nimmt. Ich selber sehe kritische Fragen als Zeichen von Interesse. Aber es gibt auch Menschen, die einen kindlichen Glauben ganz ohne Fragen haben. Jesus heisst beide willkommen.

Hindert das wissenschaftliche Denken den Glauben?

«Die Wissenschaft erklärt alles» – das ist das Dogma meines atheistischen Kollegen. Ironischerweise unterbindet diese Haltung jegliche Versuche, jene Dinge näher zu ergründen, zu denen die Wissenschaft nichts sagen kann.

Ich fordere die Leute auf, in Glaubensdingen empirisch vorzugehen: Wenn man vorher ohne Gott gelebt hat, dann wagt man das Experiment und führt ein Leben mit Gott. Nach einer Weile wertet man aus und schaut, was besser war. Die meisten Menschen finden das Leben mit Gott besser!

Aber im Ernst: Als Wissenschaftlerin habe ich mich immer wieder gefragt, ob es für alles, was ich in Bezug auf meinen Glauben erlebt habe, auch eine andere Erklärung geben könnte. Diese Offenheit gehört dazu. Wenn jemand kommt und eine solide, andere Erklärung hat für die Auferstehung Jesu und all die anderen Dinge, dann muss ich dafür offen sein. Der Glaube ist falsifizierbar. Nur habe ich bisher noch keine Erklärung angetroffen, die auch nur annähernd so überzeugend ist wie die christliche Sicht.

Was also hält Menschen davon ab, an Gott zu glauben?

Ich beobachte, dass bei vielen das gleiche abläuft wie früher bei mir: Ich verurteilte alles Religiöse im Vornherein als unglaubwürdig. Ich war der Sache nie nachgegangen, es war für mich einfach klar, dass intelligente Leute so denken. Ich war davon überzeugt, dass der christliche Glaube ein Produkt menschlicher Einbildung ist. So sehen es ja viele Leute: Dass der Glaube entstand, um jene Dinge zu erklären, die die Wissenschaft noch nicht erklären konnte. Aber das stimmt einfach nicht!

Wie kommt es zu solchen Vorurteilen?

Vielleicht, weil man etwas Negatives in der Zeitung gelesen hat oder in der Kindheit Erfahrungen machte, die den Glauben als lieblos oder widersprüchlich erscheinen liessen. Man ist dem Glauben nicht in Geschichtsbüchern, wissenschaftlichen Berichten oder anderen Quellen begegnet, die man für massgebend und glaubwürdig hält. Daraus leitet man ab, dass Religion zu einem Bereich des Lebens gehört, der spekulativ und unglaubwürdig ist.

Wie kam es dazu, dass du Christin geworden bist?

Als Mittelschülerin war ich eine stolze Atheistin. Eines Tages lud mich eine befreundete Familie in einen Gottesdienst ein. Ich kannte die Familie vom Babysitten und mochte sie sehr. Aber ich wollte auf keinen Fall in die Kirche! Nachdem ich fünf oder sechs Sonntage vorgab, Bauchschmerzen zu haben, gab die Familie auf. Aber sie fragten mich, ob ich jemals die Bibel gelesen hatte. Ich wusste, dass die Bibel das meistgelesene Buch aller Zeiten war, aber ich hatte sie noch nie gelesen.

Wie war es, als Atheistin in der Bibel zu lesen?

Meine Babysitter-Familie hatte mir empfohlen, zuerst das Buch der Sprüche zu lesen. Ich erwartete, dass die Bibel ziemlich lächerlich sein würde, voll von erfundenen Geschichten im Stil von «Casper, the Friendly Ghost». Stattdessen begegnete mir echte Weisheit. Ich realisierte, dass ich im Leben noch sehr viel zu Lernen hatte!

Ich entschied, die ganze Bibel zu lesen. Ein Jahr lang las ich täglich drei Stellen aus dem Alten Testament und zwei Stellen aus dem Neuen. Und ich spürte, wie diese Texte zu mir sprachen! Es war wirklich bizarr – ich merkte, wie ich allmählich an Gott zu glauben begann.

Du bezeichnest dich als sehr kritische Person – war das nicht etwas vorschnell?

Ich fing an, zur Kirche zu gehen. Gleichzeitig befasste ich mich intensiv mit anderen Weltreligionen. Ich wollte herausfinden, ob mein Glaube nicht einfach damit zusammenhing, dass ich gerade die Bibel gelesen hatte. Ich las also andere religiöse Texte, um zu sehen, was sie bewirken würden. Doch ich kam zum Schluss, dass es Jesus war, der mich anzog.

Ich erinnere mich an eine Predigt von Charles Stanley, in der er sagte: «Es geht nicht nur darum, was du glaubst – sondern darum, wer Herr über dein Leben ist!» Ich entschied mich, das Experiment zu wagen. Und es war wunderbar! Wie wenn ich mein Leben in Schwarz-Weiss gelebt hätte und plötzlich war alles um mich herum in Farbe.

Es war eine Veränderung, die von aussen kam, das hatte nichts mit mir zu tun. Freiheit, Loslösung von Angst, tiefer Frieden. Mit einem Schlag war mein Leben so viel reicher. Ich wünschte, ich hätte es schon viel früher getan.

Weshalb bist du überzeugt, dass der christliche Glaube wahr ist?

Zuerst einmal gibt es die historischen Argumente – ausserbiblische Quellen über Jesus und die ersten Christen, aber auch die biblischen Texte selber, die Berichte von Augenzeugen. Ich finde es faszinierend, wie wir in den Evangelien unterschiedliche Versionen derselben Geschichten vorfinden, das unterstreicht in meinen Augen die Glaubwürdigkeit. Weshalb sollte es diese Variationen geben, wenn alles erfunden wäre? Die Frauen am Grab oder das Unverständnis der Jünger, das sie ziemlich schlecht aussehen lässt – all diese Details untermauern die Zuverlässigkeit.

Dann gibt es die veränderten Leben, sowohl bei den ersten Christen, als auch heute. Wir wissen, dass es sehr schwierig ist, menschliches Verhalten zu modifizieren. Die besten Rauchstopp-Programme haben eine Erfolgsrate von vielleicht 20%.

Auffallend ist, dass alle Programme mit Bezug zu einer aussermenschlichen, höheren Instanz viel besser abschneiden, ob es sich nun um Suchtprogramme handelt, um die Bewältigung von Missbrauch oder andere Dinge. Woher kommt dieser Unterschied? Es ist eine sehr reale Kraft.

Schliesslich weist uns die geschaffene Welt auf den Schöpfer hin. Unser Institut arbeitet daran, Aspekte des menschlichen Empfindens nachzubilden. Je mehr wir davon verstehen, desto mehr erkennen wir die Komplexität und Schönheit des Ganzen. Wir sehen, wie viel es noch zu erforschen gibt. Aber das ist in der Wissenschaft die Regel.

Als ich die Robotik-Labore an der ETH Zürich besuchte, war es ja ähnlich: Bei jedem nachgebauten Gelenk, das sie mir zeigten, hiess es: Das ist nur ein kleiner Teil des Ganzen, wir wissen nicht wirklich, wie es funktioniert. Und das sind die besten Wissenschaftler der Welt! Es braucht einen sehr grossen Glauben, wenn man behauptet, all diese Dinge seien durch ein komplett zufälliges Nichts in Erscheinung getreten.

Gibt es im Bezug auf den christlichen Glauben auch Fragen, die du schwierig findest?

Die Auferstehung von den Toten, die Jungfrauengeburt oder sonstige Wunder – das ist aus naturwissenschaftlicher Perspektive natürlich erklärungsbedürftig. Aber wenn ich ein Computerspiel entwerfe, bin ja selber nicht an die Regeln gebunden, die innerhalb des Spiels gelten. Weshalb sollte ich nicht in den Verlauf dieses Computerspiels eingreifen können? Wenn Gott ausserhalb unseres Universums ist und jemanden von den Toten auferwecken möchte, weshalb sollte er das nicht tun? Diese Fragestellungen finde ich nicht so schwierig.

Wenn es aber um die Frage nach dem Leid geht – insbesondere dann, wenn es einem nahe geht, wenn man den Verlust eines Kindes miterlebt oder jemanden, der schwere Schmerzen hat – das ist hart. Das möchte ich nicht schönreden. Aber ich bin überzeugt, dass auch in solchem Leid Jesus mittendrin ist.

Ist nicht das Leid in der Welt das stärkste Argument gegen einen liebenden Gott?

Ich denke, dass wir ein sehr unvollständiges Bild des Leidens haben. Menschen, die persönliches Leid erfahren haben, berichten davon, wie sie dadurch ganz neue Aspekte des Lebens entdeckt haben. Dass sie Gott begegnet sind.

Als Menschen, die schon alles haben, tendieren wir dazu, Leid zu verachten, weil wir nicht verstehen, was es alles umfassen kann. Natürlich wünsche ich es niemandem, natürlich ist es schlimm. Doch wenn einmal die Zeit nach diesem irdischen Leben kommt, dann werden wir den Unterschied erkennen. Dann sehen wir, wie Menschen gerade durch ihre schwierigen Erfahrungen gereift sind und neue Perspektiven entwickelt haben. Das ist eine sehr hoffnungsvolle Botschaft!

Ich sehe es an den Veränderungen in meinem eigenen Leben: Die stolze Atheistin, die noch nie in der Bibel gelesen hatte, war ziemlich unausstehlich! Sie wusste es nicht, aber sie hatte noch so viel zu lernen. Auch jetzt habe ich noch einen langen Weg vor mir, es müssen noch viele Schichten weggeschält werden, bis ich für das grosse Abenteuer bereit bin.

Playing God? Towards Machines that Deny their Maker

Im Rahmen einer Vortragstournee sprach Prof. Dr. Rosalind Picard 2016 an verschiedenen Universitäten der Deutschschweiz über künstliche Intelligenz.

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