Menschen wollen in erster Linie zufrieden und glücklich sein. Wir möchten mit Angst, Wut, Ekel, Trauer oder Scham möglichst nichts zu tun haben, ausser vielleicht in der sicheren Geborgenheit eines Kinos oder zwischen zwei Buchdeckeln. Dabei lohnt es sich, unsere Gefühlswelt zu entdecken, weil diese uns erst ermöglicht, ganz mit dem Leben in Kontakt zu sein.

Wenn es uns gelingt, uns mit der Vielfalt unserer Empfindungen anzufreunden, besteht keine Notwendigkeit mehr, Teile unserer Erfahrungswelt auszuklammern, um unangenehme Gefühle zu vermeiden. Gefühle sind dann ein Zeichen dafür, dass wir leben und uns vom Leben berühren lassen. Wir können es wagen, sie zuzulassen, kennenzulernen, zu würdigen und vor Gott zur Sprache zu bringen.

Auch schwierige Gefühle machen Sinn

Gefühle helfen uns dabei, auf wichtige Ereignisse in unserem Leben zu reagieren. Sie machen uns auf Bedeutsames aufmerksam, sie sorgen dafür, dass wir uns mit den entscheidenden Dingen auseinandersetzen, und sie sind wertvolle Wegweiser im Hinblick auf die Stillung unserer Bedürfnisse. Vereinfacht lässt sich sagen: Angenehme Gefühle helfen uns zu geniessen, kreativ zu sein und uns zu entspannen. Unangenehme, alarmierende Gefühle helfen uns zu überleben, lösungsorientiert zu handeln und uns zu schützen.

Es ist zutiefst menschlich, dass wir die Freude und ihre angenehmen Geschwister für gute Gefühle halten und Wut, Trauer, Angst oder Scham als schlechte Gefühle meiden. Freude entsteht dort, wo das Leben unseren Wünschen und Erwartungen entspricht. Sie ist das einzige Gefühl, bei dem wir eine Situation voll und ganz bejahen können. Alle anderen Gefühle melden sich, wenn die Dinge anders verlaufen, als wir sie gern hätten.

Gerade in herausfordernden Situationen aber sind wir angewiesen auf die Kraft der ganzen Gefühlspalette. Wir brauchen sie, um den ständig wechselnden Umständen des Lebens angemessen begegnen zu können. Klammern wir unangenehme Gefühle aus, sind wir unfähig, uns Situationen zu stellen, die anders sind, als wir sie uns wünschen: Wir können uns weder wehren, wenn dies erforderlich ist, noch wirklich Frieden schliessen mit Dingen, die wir nicht zu ändern vermögen.

Vom Sinn der Wut

Wut ist die Handlungskraft Nummer Eins. Mit ihrer Energie hilft sie uns, eine unhaltbare Situation zu verändern. Wir finden etwas nicht in Ordnung und beziehen Stellung: «So nicht!» Wut entsteht als Reaktion auf die Interpretation: «Da läuft etwas falsch.» Falsch bedeutet: «Ich kann oder muss etwas ändern.» Die Aufgabe der Wut ist das Handeln.

Fehlt uns die Kraft der Wut, sind wir mehr oder weniger handlungsunfähig. Wir passen uns an und übergehen unsere Bedürfnisse. Wir schützen unsere Grenzen nicht und nehmen uns nicht ernst. Wir drücken uns vor der Verantwortung, für uns einzustehen und für uns zu sorgen. Fehlt uns die Bereitschaft, etwas klar als falsch zu beurteilen, verbauen wir uns auch die Möglichkeit, etwas von ganzem Herzen als richtig anzuerkennen. Alles verschwimmt in einem ausdruckslos toleranten, unauthentischen Einheitsbrei, und mit dem vermiedenen Konflikt geht unversehens auch jede Lebendigkeit verloren.

Vom Sinn der Trauer

Die Trauer hilft uns, loszulassen, Abschied zu nehmen und mit einer schmerzhaften Situation Frieden zu schliessen. Durch die Trauer können wir lernen anzunehmen, was nicht unseren Vorstellungen entspricht. Trauer wird erzeugt durch die Interpretation: «Da ist etwas schade oder traurig.» Schade bedeutet: «Ich kann oder muss etwas akzeptieren.» Die Aufgabe der Trauer ist folglich die Annahme.

Fehlt uns die Bereitschaft, etwas schade zu finden und darum zu trauern, so verpassen wir die Möglichkeit, Tiefe, Weisheit und Liebe zu entwickeln. Schmerzhafte Momente werden verdrängt, weil wir fürchten, das Schwierige nicht aushalten zu können. Ohne dass es uns bewusst ist, schliessen wir mit dieser Strategie aber auch die Freude aus unserem Leben aus: Denn wo nichts schade sein darf, ist es geradezu verantwortungslos riskant, etwas als richtig zu interpretieren. Wenn Freud und Leid nahe beieinander liegen, sind wir sicherer, wenn wir uns auf echte Freude erst gar nicht einlassen, denn nur so können wir Enttäuschungen vorbeugen.

Vom Sinn der Angst

Auch Angst ist ein unangenehmes und deshalb unbeliebtes Gefühl. Angst bedeutet nebst Gefahr auch Grenze. Angst ist die Schwelle, die das Bekannte vom Unbekannten trennt. Wenn wir etwas weder ändern (Wut) noch akzeptieren (Trauer) können, dann muss etwas vollkommen Neues geschehen, dann müssen wir unsere Form ändern. Angst ist die Kraft, die uns über diese Schwelle trägt und uns über uns hinauswachsen lässt. Angst folgt auf die Interpretation: «Da ist etwas furchtbar.» Furchtbar bedeutet: «Ich muss oder kann über mich hinauswachsen.» Die Aufgabe der Angst ist deshalb Kreativität.

Weigern wir uns, Angst zu empfinden, so ignorieren wir unsere Grenzen. Wir tun so, als wäre alles immer in Ordnung für uns. Wir sind nicht empfänglich für Signale, die uns warnen: «Es reicht, es ist genug, hier kommst du nicht weiter, das ist zu viel für dich.» Der nach aussen hin demonstrierten Sorglosigkeit fehlt es an Tiefe und Wahrhaftigkeit. Wir verpassen eine Lebendigkeit, die uns wachsen und kreativ werden lässt. Wenn uns keine Situation furchtbar erscheint, so gibt es auch keinen Impuls für Veränderung.

Vom Sinn der Scham

Scham ist ein Gefühl, das nicht äussere Umstände, sondern das Ich thematisiert. Hier wird nicht mehr dieses oder jenes für falsch (Wut), schade (Trauer) oder furchtbar (Angst) befunden, sondern der Blick richtet sich auf das eigene Selbst. Die Interpretation, die Scham hervorruft, heisst: «Ich bin falsch oder schuld.» Falsch sein bedeutet: «Ich muss etwas an mir ändern oder etwas annehmen.» Die Aufgabe der Scham ist die Selbstreflexion.

Scham ist eine äusserst schmerzhafte Emotion, die wir nur schwer ertragen. Um in Frieden mit uns leben zu können, müssen wir uns mit unserer Unvollkommenheit und der damit verbundenen Scham aussöhnen. Nur dann finden wir Zugang zu unseren Grenzen und können deren Kraft nutzen, um uns kennenzulernen und weise mit unseren Stärken und Schwächen umzugehen.

Fehlende Scham oder mangelnde Bereitschaft, diese zuzulassen, führt zu einem aufgeblasenen Selbstbild. Ohne Scham vergessen wir, dass Fehler und Schwächen ein natürlicher Bestandteil des Menschseins sind, und dass wir Verantwortung für diese übernehmen müssen. Wer schamlos durchs Leben geht, verliert die Fähigkeit zu einer gesunden Selbstkorrektur.

Gefühle und Glaube

Im hebräischen Denken sind Leib und Seele nicht losgelöst voneinander, sondern zwei zueinander gehörende und aufeinander bezogene Seiten unserer Persönlichkeit. Inneres und Äusseres gehören im biblischen Verständnis untrennbar zum Menschen. Beide Bereiche sind auf Gott bezogen. Es gibt keine Abspaltung in einen geistlichen und einen ungeistlichen Bereich: Alles gehört zu unserem Sein, wie Gott es geplant und geschaffen hat.

Das schliesst unseren Körper mit ein, unseren Verstand, unser Herz, unser Unbewusstes, unsere Motive – auch unsere Gefühle. In seinem Buch «Echt und stark» schreibt Thomas Härry: «Geistlich leben bedeutet, unser ganzes Menschsein vor Gott einzuschliessen und auf Gott zu beziehen, nicht nur einen Teil davon, den wir für geistlicher betrachten als den anderen. Solange unsere Gefühlswelt und die Regungen unserer Seele vom Einfluss des Evangeliums nicht berührt und verändert werden, bleiben wir letztlich unreife Menschen. Was sich in unserer Seele regt, muss einen direkten Bezug zu unserer Gottesbeziehung bekommen.»

Gott hat uns mit inneren Regungen und Gefühlen geschaffen. Sie sind kein Hindernis für unseren Glauben, im Gegenteil: Gefühle sind ein Geschenk Gottes an uns. Indem wir wahrnehmen, was sich in unserer Gefühlswelt abspielt und es wagen, diese Regungen vor Gott zuzulassen, erkennen wir, wo wir geistlich stehen und wo wir Veränderung und Erneuerung brauchen. Gefühle offenbaren als Sprache des Herzens die Wahrheit unserer Innenwelt. Vor dieser Wahrheit die Augen zu verschliessen, hat nichts mit geistlicher Reife zu tun. Nur wo wir anerkennen, was wirklich in uns ist, können wir frei werden und im Glauben wachsen.

Wie können wir Gott näher an unser Herz heranlassen? In Psalm 139 findet sich eine wertvolle Hilfe. Dort lesen wir in den Versen 23 und 24: «Durchforsche mich, Gott, sieh mir ins Herz, prüfe meine Wünsche und Gedanken! Und wenn ich in Gefahr bin, mich von dir zu entfernen, dann bring mich zurück auf den Weg zu dir!» Dieses einfache Gebet kann ein erster Schritt sein auf dem Weg, unsere innere Welt vor Gott zur Sprache zu bringen.

Entfernung und Entfremdung von Gott, wie sie der 139. Psalm beschreibt, haben nicht nur mit moralischen Fehltritten und klassischen Sünden zu tun. Wir entfernen uns auch dort von Gott, wo wir das ignorieren, was sich unter der sichtbaren Oberfläche unseres Lebens abspielt. Wo wir unsere Vergangenheit nicht ernst nehmen. Wo wir unserer Verantwortung ausweichen. Wo wir unsere Begrenzungen ignorieren. Wo wir schmerzhafte Gefühle unterdrücken und ihnen damit erlauben, uns innerlich hart zu machen und geistlich zu blockieren.

«Durchforsche mich, Gott, sieh mir ins Herz.» Mit diesem schlichten Gebet beginnen wir, unser ganzes Leben vor Gott auszubreiten – auch die inneren und verborgenen Seiten unserer Seele. Wenn wir dieses Gebet ernsthaft beten, geben wir jenen Dingen in unserem Leben Raum, die wir bisher unterdrückt haben, weil wir sie möglicherweise für ungeistlich und unzumutbar gehalten haben. Solches Echtsein vor Gott kostet Mut – aber es wirkt tief befreiend.

Literatur

Dieser Text erschien ursprünglich im Magazin des VBG-Fachkreises «Psychologie & Glaube».

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