Annina Gottschall lebt aus und für
Beziehungen.

 

Annina Gottschall liebt beziehungsintensive Aufgaben. Zweieinhalb Tage die Woche arbeitet sie in der Pädagogikarbeit für Berufstätige der VBG. Die andere Hälfte unterrichtet sie an der Oberstufe Schiers. Anfang dieses Jahres wurde Annina in das neue Leitungsteam des PraiseCamps gewählt. Ein grosses Stück ihrer Freizeit investiert sie in die Gemeindeleitung und als Worshipleiterin im ICF Chur. Und wer nun denkt, dass Annina bestimmt in ihrem restlichen Alltag etwas Ruhe sucht, der irrt: Seit Jahren wohnt sie in einer quirligen 4-er-WG hoch über den Dächern von Chur.

Wie viele Kontakte hast du in deinem Handy abgespeichert?

Uff. Viele! (kurz nachgeschaut) 1806.

Was bringst du als Annina in deine Beziehungen ein?

Als Generalistin fragt man sich dies dauernd. Ich bringe, glaub ich, meine Beziehungsstärke ein. Ich komme mit verschiedensten Typen von Leuten klar, bin gern mit Menschen unterwegs und bleibe trotz Konflikten dran an Beziehungen. Es fällt mir leicht, mich auf das Gemeinsame zu konzentrieren, unterschiedliche Interessen zu vereinen und Menschen zu verbinden. Zudem bin ich optimistisch und gelassen und muss nicht alles auf die Goldwaage legen. Positivity – das einzelne nicht allzu ernst nehmen. Ich glaube, dass mir eine konstante Leichtigkeit gegeben ist. Diese Stetigkeit hilft vielen in meinem Umfeld. Auch in meiner WG bin ich inmitten von vielen Emotionen der ruhige Pol. (lacht) 

Wo bist du auf andere angewiesen in deinen Beziehungen?

Überall. Ich bin so unglaublich ergänzungsbedürftig. Ich brauche zum Beispiel ernsthafte Denker, die sich vertieft mit theologischen Fragen auseinandersetzen und meine Leichtigkeit mit ihrer Ernsthaftigkeit ergänzen. Ich brauche die eher einseitigen Menschen – gerade auf dem Weg mit Jesus. In meinem weiten Blick geht das Einzelne oft etwas verloren. Da sind mir Menschen, die eine Leidenschaft fürs Gebet, den Heiligen Geist oder Übernatürliches haben, eine Hilfe. Und dann bin ich angewiesen auf Menschen, die das Gegenteil von mir sind. Als verplante Person brauche ich Freunde, die genügend flexibel sind, damit es Platz hat für mich. Wären sie alle so wie ich, würden wir komplett aneinander vorbei leben, weil wir sicher nie gleichzeitig füreinander Zeit hätten. 

Wie setzt du Prioritäten, wenn du an so vielen Orten gefragt bist?

Die Agenda bringt meistens die Prioritäten mit sich. Die Arbeit hat unter der Woche immer Priorität. Mir sind Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit extrem wichtig. Vorgegebenes möchte ich auch einhalten. Was fix ist, ist fix. Grundsätzlich sind mir meine Engagements aber alle wichtig. Sonst hätte ich sie mir ja nicht ausgewählt. 

Wieso hast du die VBG ausgewählt?

Für die VBG entscheide ich mich immer wieder mit Freude, weil das Miteinander unter den Mitarbeitenden so unglaublich bereichernd ist. Die VBG zeigt beispielhaft, wie Menschen trotz unterschiedlichster Prägungen und Glaubensvorstellungen konstruktiv und wohlwollend miteinander unterwegs sein können. Ein hoher Wert, der mich für die VBG begeistert. Natürlich liegt mir auch das Anliegen, Glauben und Alltag zu verbinden, am Herzen. Ich beobachte bei vielen Leuten, dass dieser Spagat eine Herausforderung ist. Auch ich frage mich immer wieder: Wie darf mein Glaube speziell auch im Berufsalltag eine Rolle spielen?

Wenn dir die Arbeit bei der VBG so gut gefällt, wieso daneben noch Unterrichten?

Das Handwerk als Lehrerin habe ich gelernt, darin bin ich ausgebildet. Es ist ein Teil meiner Berufung. Ich liebe es, mit Jugendlichen unterwegs zu sein, ihnen etwas beizubringen, das ihnen auch wirklich etwas bringt, sie in ihren Herausforderungen zu unterstützen, im Dialog zu bleiben, ihnen zu helfen, ihren Blick zu weiten, über das hinaus, was sie tagtäglich in ihrem Handy sehen. Zudem mag ich die Herausforderung, in einem Kollegium unterwegs zu sein, wo der Glaube nicht die Voraussetzung ist, eher im Gegenteil.

In der VBG arbeitest du bereits aktiv für das Reich Gottes. Braucht es da auch noch das Engagement im ICF?

Ich habe einfach eine sehr hohe Überzeugung für das System Kirche – unabhängig vom ICF. Ich glaube, es ist wichtig, dass man an eine Gemeinschaft angeschlossen ist. Wir müssen einen Raum haben, wo wir gemeinsam glauben können. Ich bin davon überzeugt, dass dies gerade für Leute in Glaubenskrisen eine grosse Stütze sein kann. In den vielen Momenten, in denen es mir gut geht, kann ich andere, die gerade kämpfen, tragen und ermutigen. Gerade weil sich viele Menschen damit schwertun, sich verbindlich zu engagieren, möchte ich mich mit Konstanz in die Kirche einbringen, selbst wenn ich manche Dinge anders sehe.

Im Januar wurdest du zusammen mit Joel Gerber und David Reusser mit der Leitung des PraiseCamp beauftragt. Eine weitere, riesige Aufgabe. Was begeistert dich fürs PraiseCamp?

Mehr noch als das PraiseCamp als solches liegen mir die Menschen am Herzen. Ich glaube, es ist matchentscheidend, dass wir Christen miteinander auf dem Weg sind und uns gemeinsam engagieren – in diesem Fall für die Jugend. In der Schweiz gibt es nichts Vergleichbares in dieser Hinsicht. Man setzt sich zusammen an einen Tisch, legt alle Differenzen beiseite und fokussiert sich auf das, was uns gemeinsam ist.

Du bist die erste Frau in der Leitung vom PraiseCamp. Siehst du dich auch als Vermittlerin zwischen den Geschlechtern?

Vermutlich schon. Dieses Thema ist für mich ein Spannungsfeld. Zum einen ist es mir wichtig, auch Frauen in Leitungspositionen zu bringen, andererseits bin ich dagegen, einfach nur aufgrund der Frauenquote einen solchen Job zu machen. Ich hoffe, ich bin nicht nur, weil ich eine Frau bin, in diesem Team gelandet – auch wenn es wohl ein Mitgrund war. Es wurde mir von jungen genauso wie älteren Frauen gesagt, wie wichtig es für sie sei, dass ich Teil des Leitungsteams werde. In dem Sinne repräsentiere ich sicherlich ein bisschen die Frau.

Du bist definitiv eine Vernetzerin. Kann aus zu viel Vernetzen auch Verzetteln werden?

Das ist sicherlich eine Gefahr. Aber ich mache einfach alles zu gern. Meine Engagements variieren zum Glück stark in Aufwand und Anspruch. Mal braucht es mich hier mehr, mal dort. Wer sich nur an einem Ort engagiert, ist tendenziell anfälliger für Schlagseiten oder blinde Flecken. So vielseitig aktiv zu sein, fördert eine Weite, die ich schätze und die ich auch immer wieder einbringen kann. Ich glaube, dass ich unter anderem gerade deshalb fürs PraiseCamp angefragt worden bin, weil ich diese Weite mitbringe.

Neben all deinen beziehungsintensiven Engagements wohnst du auch noch in einer 4-er WG. Warum?

Mit dem Älterwerden wird der Spagat immer grösser zwischen den Vorteilen des Alleinwohnens und jenen des Zusammenlebens in einer WG. Zwischendurch bin ich definitiv froh, wenn ich beim Heimkommen eine leere Wohnung antreffe. Gerade als Single-Frau empfinde ich es aber auch als Chance, in Beziehungen eingebunden zu sein und Leuten damit zu erlauben, mich privat zu erleben und mich auch zu spiegeln. Darüber hinaus ist meine WG vor allem ein Zuhause: Hier kann ich einfach der Mensch sein, der ich bin – ganz unabhängig von Aufgaben und Engagements.

Wie gehst du mit Konflikten um?

Vermeiden! (lacht) Nein, im Ernst: Ich versuche mein Gegenüber zu verstehen, meine Position darzulegen und letztlich auch um der Sache willen für einen Kompromiss bereit zu sein. Als Christen haben wir eine Vorbildfunktion darin, Konflikte auszuhalten und immer wieder Vergebung zu leben. Einfach davonlaufen kommt für mich deshalb nicht in Frage.

In ein so grosses Beziehungsnetz eingebunden zu sein, bedeutet auch Anspannung. Drohst du manchmal zu zerreissen?

Ja, ständig. In meinem Umfeld gibt es zurzeit so viele Leute, die Burnout gefährdet sind. Da hinterfrage ich mich manchmal schon, ob die Art, wie ich lebe, eigentlich gesund und verantwortungsvoll ist. Gleichzeitig weiss ich auch, dass nicht jedem gleich viel gegeben ist, an Energie, Kraft und Möglichkeiten. Ich habe das Gefühl, dass mir nun mal viel gegeben ist, dass ich auch einiges aushalten kann. Die Leute sagen mir immer wieder: «Du hast viel zu viel.» Solange ich mich aber regelmässig erholen kann, es mir gut geht und die Menschen in meinem Umfeld mich ertragen, ist es in Ordnung so, wie es ist.

Beziehungen sind auch oft kräftezehrend. Wo tankst du wieder auf?

Schlaf. Eine gute Siesta. Ich gehe sehr gern an Konzerte und kulturelle Veranstaltungen. Oder ich erlebe in der Natur die Schönheit von Gottes Schöpfung. Ich brauche Momente des Staunens und einfach Sein Dürfens. In meiner Arbeit bin ich fast immer zielorientiert mit anderen unterwegs. Zeiten mit Freunden bei einem Kaffee, einem Glas Wein oder einem guten Essen sind mir deshalb wichtig. Zeit zum Lachen und Lustigsein, ohne dass dabei irgendetwas erreicht werden muss – das ist Balsam für mich.

Wie spielt dein Singlesein in Beziehungen hinein?

Klar könnte ich meinen Kalender niemals so füllen, wenn ich einer Partnerschaft oder einer Familie verpflichtet wäre. Jemand hat mal über mich gesagt: «Das alles kann sie nur machen, solange sie noch Single ist.» Solche Aussagen nerven mich. Ich könnte mich auch als Familienfrau engagieren. Natürlich wären meine Kapazitäten dadurch begrenzter. Aber es stört mich, wenn mein Engagement nur durch mein Singlesein begründet wird. Gerade als Frau. Einem Mann sagt niemand, er könne nur so lange engagiert sein, wie er noch keine Familie habe.

Wo hat Gott seinen Platz?

In Allem. Ich bin nicht so der Typ für regelmässige stille Zeiten. Bei mir ist Gott viel mehr eingebaut im Alltag. Das passiert ganz automatisch: Da stehe ich vor einem Schüler und weiss gerade nicht, wie reagieren – und schon richtet sich mein Inneres an den Herrn. Auch während Fahrten im Auto oder im Zug bin ich oft in einem inneren Dialog mit Gott und bespreche Begegnungen und Situationen mit ihm.