Wie wir uns Gottes Macht
vorstellen können
Jeder Versuch einer Erforschung der Machtpolitik Gottes bleibt bruchstückhaft. Wir sehen nur winzige Ausschnitte. Dazwischen sind gewaltige Lücken. Der Untergrund, auf dem die wenigen Puzzleteile liegen, ist keine schöne Tischplatte, sondern Dunkelheit, Leere, Not und Schmerz. Von Gottes Macht zu sprechen angesichts des himmelschreienden Leids in der Welt erfordert Mut. Trotzdem sei es gewagt, einige Überlegungen im Sinne einer vorsichtigen Annäherung zu äussern.
Bibelworte als Wegweiser
Zwei Psalmworte, in existenzieller Betroffenheit formuliert, mögen uns als Ausgangspunkt dienen. «Gerechtigkeit und Recht sind deines Thrones Grundfeste. Gnade und Treue gehen vor deinem Angesicht her.» «Gewölk und Dunkel sind um ihn her. Gerechtigkeit und Recht sind die Grundfeste seines Thrones.» Der Thron ist uraltes Symbol für Macht und Machtpolitik. Gott hat einen Thron, und er sitzt auf dem Thron. Aber wie regiert er? «Gerechtigkeit und Recht sind deines Thrones Grundfeste.»
Gottes Regierung ist nicht willkürlich, sondern auf Gerechtigkeit und Recht gegründet. Gerechtigkeit meint soziale Gerechtigkeit, Nächstenliebe. Sie zielt auf faire und gute Behandlung des Mitmenschen, so dass sich alle gerecht behandelt fühlen und es ihnen – ganz im Sinne des göttlichen Shalom – rundum gut geht. Recht bezeichnet gute Massstäbe, Ordnungen und Gesetze, die Orientierung bieten und nach denen man sich richten kann. Heute würden wir von Rechtsgrundlage sprechen.
Die nächste Aussage doppelt nach: «Gnade und Treue gehen vor deinem Angesicht her.»
Gnade ist Gottes aktiv helfendes Eingreifen, seine Rettungsaktion für jemanden, der Hilfe dringend nötig hat. Gott greift gnädig ein. Treue ist die Zuverlässigkeit Gottes, und zwar die langfristige, andauernde, beständige Zuverlässigkeit Gottes. Er hält, was er verspricht, er bleibt treu – nicht nur seinen Leuten, sondern auch seinen Rechtsgrundsätzen gegenüber.
Gerechtigkeit und Recht, Gnade und Treue bestimmen und gestalten also die Machtpolitik Gottes. Das wird hier von den biblischen Autoren behauptet. Sie haben sich zu dieser Aussage, wie sie gerade in den Psalmen immer wieder aufleuchtet, durchgerungen. Und sie kehren immer wieder tapfer dorthin zurück, aus Not und Dunkelheit und Nichtverstehen. Das wird deutlich in diesem knappen Satz, der leicht überlesen wird: «Gewölk und Dunkel sind um ihn her.»
Gnade und Treue gehen vor ihm her, Gewölk und Dunkel sind um ihn her. Beides stimmt und bildet eine unauflösliche Spannung. Beides gehört zu Gott und seinem Thron. Gewölk und Dunkel sprechen von der Unergründlichkeit Gottes, seiner Verborgenheit, seiner Nichtverständlichkeit, von den vielen dunklen Räumen und Distanzen zwischen den «Puzzleteilen» der Gnadenerlebnisse und Treueerfahrungen von Menschen.
Prinzipien der Gottesherrschaft
Ich erweitere nun das Bild vom Thron und füge einen Vergleich hinzu. Wenn der Thron Gottes auf Gerechtigkeit und Recht gegründet ist, sie also gleichsam die Grundlage für den Thron Gottes bilden, so können wir uns vorstellen, dass dieser Thron Säulen hat. Mehrere Säulen stützen ihn und verbinden ihn mit dem Fundament von Recht und Gerechtigkeit.
Die Säulen symbolisieren dabei Richtlinien oder Prinzipien der Herrschaft Gottes, wie sie in der Bibel beschrieben werden. Sie stehen nicht über Gott, sondern sind aus ihm selbst heraus entstanden. Gott hat sich diesen Grundsätzen verpflichtet.
I
Säule 1: Gott regiert.
Gott hält die Welt aktiv am Leben und am Laufen, er ist involviert, befiehlt, veranlasst, steuert, beginnt und vollendet geschichtliche Prozesse. Oft greift er dabei auch zu drastischen Massnahmen.
III
Säule 3: Gott kommt zum Ziel.
Gott denkt und handelt langfristig und zielbewusst. Was heute böse scheint und als Versagen Gottes gedeutet werden könnte, führt später zum Guten. Gott hat eine Mission: «Siehe, ich mache alles neu.» Das ist seine Regierungserklärung, die er über lange Zeiträume verwirklicht. Manchmal über Umwege. Vielleicht auch mit Unterbrechungen.
II
Säule 2: Gott gewährt.
Gott erlaubt Freiräume für eigenmächtiges Handeln von Menschen und unsichtbaren Gewalten. Er schenkt echte Verantwortung mit der Möglichkeit von Missbrauch und Fehlentwicklungen. Er teilt seine Herrschaft und Autorität. Deshalb verzichtet er immer wieder auf die von uns gewünschte Durchsetzung seiner Macht.
IV
Säule 4: Gott fühlt mit.
Gottes Allwissenheit ist keine kalte, distanzierte Allwissenheit. Sie ist engagiert, mitfühlend, schmerzvoll. Gott ist innigst mit seinen Geschöpfen verbunden, er sieht sie, hört sie, fühlt sie. Er geht mit und leidet mit.
Gottes Weisheit trauen
Wir Menschen bewegen uns gleichsam unter dem Thron Gottes zwischen diesen Säulen – in einem weiten Raum von «Gewölk und Dunkel». Bisweilen bleiben wir bei einer Säule stehen, machen sie zu unserer Lieblingssäule und entwickeln unter Umständen eine ganze Theologie darüber. Dieser Versuch, Licht ins Dunkel zu bringen und Trost zu finden, birgt eine Gefahr: Unser Gottesbild wird einseitig. Es wird Gottes Grösse nicht gerecht.
Damit sind wir wieder beim Anfangsgedanken angekommen: So sehr wir uns nach Klarheit sehnen – es wird uns nicht möglich sein, die Distanz zwischen den Säulen so zu verringern, dass eine gemütliche kleine Stube entsteht, wo alles verständlich und sicher ist. Stattdessen sind wir eingeladen, uns inmitten der bleibenden Spannung Gottes himmlischer Machtpolitik anzuvertrauen.
«Wie unerschöpflich ist Gottes Reichtum! Wie tief ist seine Weisheit, wie unermesslich sein Wissen! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Hat jemals ein Mensch die Gedanken des Herrn ergründet? Ist je einer sein Berater gewesen? Wer hat Gott jemals etwas gegeben, sodass Gott es ihm zurückerstatten müsste? Gott ist es, von dem alles kommt, durch den alles besteht und in dem alles sein Ziel hat. Ihm gebührt die Ehre für immer und ewig. Amen.»