Von Glaubensmüdigkeit zu neuer Begeisterung

 

Kann unser Glaube Fragen aushalten? Darf er gestört und herausgefordert werden und darin wachsen oder muss er ein Leben lang deckungsgleich sein mit den Überzeugungen, die einst aus einem bestimmten Bibelverständnis hergeleitet wurden? Oder anders gefragt: Darf sich mein Glaube weiterentwickeln oder soll er so bleiben wie er am Anfang war?
Viele Christen erleben über die Jahre hinweg eine zunehmende Entfremdung ihres starren Glaubens von ihrem bewegten Leben. Sie sehnen sich danach, ihren Glauben konsequent und ehrlich zu leben, erfahren aber zugleich eine schmerzhafte Diskrepanz zwischen theoretischen Glaubensüberzeugungen und praktischen Lebenserfahrungen. Wird die innere Spannung dabei zu gross, erleben Menschen ihren Glauben zunehmend als frustrierende Erfahrung. Diese Christen sind glaubensmüde. Sie fühlen sich im Glauben, der ihnen einst eine Heimat bot, nicht mehr zu Hause.
Obwohl sich jeder Glaubensweg individuell gestaltet, lässt sich ein bestimmtes Entwicklungsmuster mit verschiedenen Phasen beobachten:

Phase 1: Erste Leidenschaft

Bei vielen Christen beginnt das Glaubensleben mit einer ‘Ersten Liebe’. Berührende Erfahrungen mit Gott oder einer Gemeinschaft entzünden ein inneres Feuer, das viel Glaubensenergie freisetzt. Es ist eine Phase von hoher Aktivität und Initiative bei gleichzeitig eher geringer Reflexion dessen, was man da eigentlich glaubt. Das Leben kommt durch den Glauben erst einmal in Bewegung.

Phase 2: Klare Glaubenssysteme

Im Laufe der Zeit entwickelt sich aus den ersten Glaubenserfahrungen ein Glaubenssystem. Auf dem Hintergrund bestimmter Prägungen wachsen theologische Überzeugungen und klare Ansichten, man eignet sich gewisse Glaubensinhalte an: Der Glaube gewinnt an Profil, die Wahrheit scheint gefunden.

Phase 3: Ernüchternde Realität

In der dritten Phase wird das entstandene Glaubenssystem empfindlich gestört. Durch ausbleibende Gebetserhörungen, geplatzte Lebensträume, Brüche in der eigenen Biografie, Gemeindekonflikte, durch Zweifel am bisherigen Bibelverständnis oder der Konfrontation mit anderen theologischen Ansätzen bekommt das Glaubenssystem Risse. Die Eindeutigkeit bishe­riger Überzeugungen schwindet und Enttäuschung, Skepsis und Ernüchterung dem Glauben gegenüber gewinnen an Raum. Diese Phase ist oft mit Schuldgefühlen verbunden, weil man genau zu wissen meint, was man eigentlich glauben sollte, es aber einfach nicht mehr glauben kann.

Phase 4: Zerbruch oder neue Leidenschaft

Wer die Erfahrung macht, dass der eigene Glaube nicht mehr passt, zerbricht entweder an dieser Spannung oder er öffnet sich für eine Phase von Wachstum und Reifung. Glaubensentwicklung beinhaltet die Chance, dass Glaube und Leben sich wieder näherkommen. Eine solche Veränderung unseres Glaubens ist aber nur möglich, wenn wir unsere Fragen, Zweifel und Brüche ernst nehmen. Wird diese Entwicklung zugelassen, können eine neue Liebe und eine neue Leidenschaft wachsen für einen Glauben, der wieder authentisch und im wahrsten Sinne des Wortes ‘glaubwürdig’ ist.
Ich spreche an dieser Stelle gern von einem ‘Glaubensumzug’. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaubende einigen Fragen stellen: Welche Praxis und welche Überzeugungen sind wertvoll? Was möchte ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen? Welche Überzeugungen muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche Aspekte darf ich mir neu aneignen, damit mein Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt?
In meinem eigenen Glauben habe ich diese Weiterentwicklung in ganz konkreten Themen vollzogen. Drei davon möchte ich nachfolgend skizzieren:

Mein Gottesbild.

Vor Jahren las ich einen Text aus dem Alten Testament, in dem ein strafender Gott Freude daran hat, seinem Volk Schaden, Leid und Schmerz zuzufügen. Gleichzeitig las ich einen Text aus dem Neuen Testament, in dem Jesus sich einer stadtbekannten Sünderin zuwendet, ihr Trost spendet und Vergebung schenkt. Welch ein Kontrast! Wie ist Gott nun eigentlich? Gibt es Gott in mehreren Versionen, und wie weiss ich, welcher Version ich gerade begegne? Unberechenbarkeit zerstört Vertrauen. Aber letzteres ist doch gerade die Grundlage unserer Gottesbeziehung. Hier hat sich mein Glaube weiterentwickelt: Ich durfte entdecken, dass Gott nie anders ist, als er sich in Jesus gezeigt hat. Jesus ist das vollkommene Abbild von Gottes Charakter (Hebräer 1,1-3). Wer Jesus sieht, sieht den Vater (Johannes 14,7). In Jesus hat sich Gott eindeutig geoffenbart, damit ich ihm zutiefst vertrauen kann.

Mein Bibelverständnis.

Im Verlauf meiner Glaubensreise habe ich verstanden, dass man die Bibel nicht einfach dadurch ernst nimmt, indem man sie immer wörtlich auslegt. In der Bibel gibt es nicht nur historische, sondern auch poetische Wahrheit. Und manchmal untergräbt man biblische Aussagen gerade dadurch, dass man sie naturwissenschaftlich oder historisch verifizieren möchte. Weiter möchte ich mir immer wieder neu bewusst machen, dass die Bibel zwar die inspirierte Wahrheit ist, ich diese aber nicht einfach auf meine jeweilige Auslegung der Bibel übertragen kann. Auslegung ist und bleibt subjektiv. Mein Erkennen ist Stückwerk. Das macht mich friedfertiger und toleranter anderen Menschen und ihren Ansichten gegenüber.

Mein Verständnis von Ethik und Moral.

Im Vergleich zu früher unterscheide ich heute viel stärker zwischen Ethik und Moral. Moral sind einzelne Regeln, Vorschriften und Gepflogenheiten. Ethik beinhaltet die dahinterstehenden Prinzipien und Leitgedanken. Ethik ist zeitlos, Moral zeitbedingt. Ethik bleibt, Moral wandelt sich. Ethische Prinzipien ermöglichen es zu jeder Zeit und in jeder Generation, neue moralische Leitlinien abzuleiten. In diesem Sinne ist die Bibel für mich eine verlässliche Quelle der Ethik, aber nicht das Gesetzbuch einer unwandelbaren Moral. Diese Unterscheidung befreit und fördert Mündigkeit und Verantwortungsbewusstsein.
Deine Glaubensentwicklung mag andere Schwerpunkte haben. Entscheidend ist, dass Glaube und Leben wieder zusammenfinden, sich gegenseitig befruchten und Glaube sich dadurch authentisch, lebendig und relevant anfühlt! Wir führen unseren steckengebliebenen Glauben aus der Sackgasse, wenn wir ihm zugestehen, dass er sich weiterentwickeln darf. Dass Jesus als Anfänger und Vollender des Glaubens (Hebräer 12, 2) uns in diesem Prozess zur Seite steht, empfinde ich als Chance.