Ungeteilt

Warum sich das Alte und Neue Testament der Bibel nicht voneinander trennen lassen.

Der zornige und gewalttätige Gott im Alten Testament und der liebende Gott im Neuen Testament. Oder: Gesetz im Alten Testament und Evangelium im Neuen Testament. «Du sollst nicht anziehen ein Kleid, das aus Wolle und Leinen zugleich gemacht ist»1 im Alten Testament und «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst»2 im Neuen Testament.

Solche und ähnliche Gegensätze zeugen von der Schwierigkeit, die Bibel als Einheit zu verstehen und besonders von der Schwierigkeit, die bleibende Bedeutung des Alten Testaments für uns Christen zu erkennen. Haben wir es wirklich mit ein und demselben Gott zu tun?

Diese Frage ist bestimmend für die Frage nach der Einheit der Bibel. Diese ist in rund einem Jahrtausend entstanden und dutzende Menschen haben Texte dazu beigetragen. In der menschlichen Verfasserschaft der Bibel kann die Einheit also kaum gefunden werden: Zu vielfältig sind ihre Autoren, zu lange ihre Entstehungsgeschichte. Die Frage nach der Einheit der Bibel ist die Frage nach Gott und zwar, aus christlicher Sicht, die Frage nach dem dreieinigen Gott.

Jesaja sieht Jesus

Jesaja wird im Tempel am Thron Gottes zu seinem Prophetenamt berufen (Jesaja 6). Er sieht die Herrlichkeit Gottes, umgeben von Serafim, die unaufhörlich «Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth!» singen. Johannes schreibt, Jesaja sei bei seiner Berufung Jesus begegnet und habe danach von Jesus gepredigt (Johannes 12,41).

Oder nehmen wir Paulus: Ihm zufolge hat Jesus das Volk Israel auf der Wüstenwanderung begleitet (1. Korinther 10,1–4). Die Apostel sind überzeugt, dass es schon das alttestamentliche Gottesvolk mit Jesus zu tun hatte. Die Einheit der Bibel gründet darin, dass durch die Jahrhunderte hindurch der Sohn Gottes, der schliesslich in Jesus von Nazareth Mensch wurde, mit dem Volk Gottes unterwegs war.

Der Hauch Gottes

Dann aber auch der Heilige Geist: Mit ihm verbindet sich die Rede von der «Inspiration» der Schrift. Der Geist ist der Hauch, der aus dem Mund Gottes geht. «Alle Schrift ist gottgehaucht», heisst es in 2. Timotheus 3,16 und nach 2. Petrus 1,21 haben Menschen «getrieben vom heiligen Geist im Namen Gottes geredet».

Der katholische Neutestamentler Marius Reiser hat in seinem Buch «Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift» (2007) gezeigt, wie es zusammenhängt, dass in der Aufklärung die Lehren von der Einheit und der Inspiration der Schrift ins Wanken geraten sind.

Wenn man über die Einheit der Bibel nachdenkt, muss man also immer auch über den dreieinigen Gott nachdenken. Letztlich kann es aber nicht genügen, nur abstrakt über Einheit und Inspiration der Schrift nachzudenken, sondern diese Einheit muss sich an den konkreten Texten selbst erweisen und bewähren. Da wir die Bibel aus den Händen Jesu – überliefert durch die Apostel – empfangen, ist es ein guter Ausgangspunkt, von Jesus und den Aposteln zu lernen, die Bibel zu lesen.