Ist es an der Zeit, 
dass der Mensch 
seinen Vorrang abtritt?

Die Bibel bezeichnet den Menschen als «Ebenbild Gottes» und als «Krone der Schöpfung». Damit steht sie im 21. Jahrhundert ziemlich quer in der Landschaft. Zeigt nicht die drohende Klimakrise, der zerbrochene Frieden in Europa, die kaum bewältigbare Coronapandemie und die fehlende soziale Gerechtigkeit an allen Enden der Erde, dass wir diese Ehrentitel nicht verdient haben? Empirisch steht die biblische These nicht gut da, dass es sich bei uns Menschen um Abbilder eines allmächtigen, liebevollen und weisen Weltenherrschers handeln soll.

Der Algorithmus kann’s besser

Vielleicht ist es an der Zeit unsere Stellung an der Spitze der Schöpfung an einen fähigeren Thronfolger abzutreten. Als vielversprechender Nachfolger für diesen Posten wird schon seit einiger Zeit die künstliche Intelligenz gehandelt. Längst haben wir uns daran gewöhnt von Computerprogrammen im Rechnen und Schachspielen besiegt zu werden. Jüngst merken wir, dass wohl auch das Übersetzen von Texten, das Einkassieren in der Migros und bald auch das Autofahren effizienter von intelligenten Maschinen erledigt werden kann. Studien zur Verwendung von Computeralgorithmen in Gerichtssälen werfen weiter die Frage auf, ob wir nicht auch wichtige Entscheidungen an künstliche Intelligenzen delegieren sollten. Sie arbeiten nicht nur schneller und effizienter, sondern richten und regieren scheinbar auch vorurteilsfreier und gerechter.
Es klingt also vernünftig: Wir sollten die Krone der Schöpfung baldmöglichst abtreten. Das biblische Menschenbild wäre damit an seinem Ende. Tatsächlich? Wer hat denn gesagt, dass wir Menschen uns unsere Krone je aufgrund irgendwelcher Fähigkeiten verdient hatten? Die Bibel erstaunlicherweise nicht! So schreibt der Psalm 8: «Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst? Wer ist er schon, dass du dich um ihn kümmerst!» Hier wird nicht selbstbewusst auf die Fähigkeiten des Menschen geschaut und festgestellt, dass er es verdient habe eine Krone zu tragen und Ebenbild Gottes zu sein. Im Gegenteil stellt der Psalmist vielmehr mit Erstaunen fest, dass Gott dem Menschen eine herausragende Stellung innerhalb der Schöpfung verliehen hat. Die Gründe dafür bleiben ihm schlichtweg unverständlich.

Kindergeschrei

Im Vergleich zur Herrlichkeit des Sternenhimmels erscheint der Mensch klein. Sein Lobpreis gleicht eher dem Geschrei von Säuglingen (Verse 3–4). Leicht ist es denkbar, dass es in der Schöpfung mächtigere Geschöpfe gibt, die die Welt gerechter regieren könnten. Trotzdem, und das ist die entscheidende Pointe von Psalm 8, hat Gott den Menschen zu seinem Ebenbild bestimmt, ihm die Krone auf sein unwürdiges Haupt gesetzt und ihn zu seinem irdischen Stellvertreter gemacht (Verse 6–9).
Die Krone der Schöpfung zu sein, das ist gemäss Bibel also an keine besondere Fähigkeit des Menschen geknüpft. Es ist seine Berufung von Gott. Wenn das stimmt, dann dürfen wir diese Berufung nicht einfach delegieren. Selbst wenn wir immer wieder feststellen, dass uns die nötigen Gaben dazu fehlen. Gott selbst scheint sich daran auch nicht gestört zu haben. Wie er sich durch Kindergeschrei loben lässt, ohne dabei an Grösse einzubüssen, so lässt er auch seine Schöpfung durch kaum dazu fähige Menschen verwalten. In den Schwachen mächtig zu sein, das ist Teil seines Plans. Wie das aufgehen soll, das zeigt erst der Blick ins Neue Testament, wo die Krone der Schöpfung mit all ihren Dornen und Stacheln endlich auf ein würdiges, aber doch menschliches Haupt gesetzt wird. Auf das Haupt Jesu, der Friedefürst heisst, weil er der Welt den Frieden bringt und bringen wird.