Wie deuten wir die Zeichen der Zeit?

Andrea, tanzt du gerne auf 
verschiedenen Hochzeiten?

Tatsächlich laufe ich immer wieder Gefahr, zu viel in mein Leben zu packen. Ich bin rasch zu begeistern, vielseitig interessiert und plane gern. Dass ich mich beruflich in verschiedenen Gebieten bewege, ist aber zugleich eine Schutzmassnahme: In der therapeutischen Arbeit geht mir das Schicksal der Menschen oft sehr nahe.

Um meinen Grenzen Sorge zu tragen, habe ich nie mehr als 60% als Psychologin gearbeitet. Schon bald nach meinem Berufseinstieg habe ich ein zweites Standbein als Referentin und Dozentin aufgebaut und theologische Kurse am TDS in Aarau besucht. Psychologie und Theologie miteinander in Verbindung bringen – das ist meine Leidenschaft. Übrigens auch in VBG-Kursen.

Johanna und Matthias Mahler-Gündel haben 2018 geheiratet und arbeiten beide in ihrem ersten Job nach dem Studium. Johanna ist Sprachwissenschaftlerin und leitet in der VBG das Ressort Apologetik. Matthias ist Soziologe und arbeitet in der Nachhaltigkeitsberatung. Wie erleben sie das aktuelle Weltgeschehen – auch aus der Perspektive des Glaubens?

Matthias und Johanna, stecken wir in der Krise?

Matthias: Die gängigen Indikatoren zeigen, dass es uns insgesamt so gut geht wie nie zuvor. Viele internationale Krisen sind in der Schweiz gar nie angekommen. Gleichzeitig hat die Corona-Pandemie gesellschaftliche Verwerfungslinien offengelegt, die schon lange da waren, aber bisher verborgen blieben – etwa die widersprüchliche Erwartung, dass der Staat unsere Probleme regeln, aber sich nicht in unseren Alltag einmischen soll. Langfristig einschneidender finde ich die Krise des Selbstverständnisses: Das, wovon viele Menschen geträumt haben oder wofür sie sich stark einsetzten, erkennen sie allmählich als unerreichbar oder sehen die Schattenseiten davon. Wir haben zu wenig Platz, als dass alle ein Haus im Grünen haben können, wollen aber trotzdem eines. Und auch wenn mein Lebensstil noch so ökologisch ist, bin ich in einem System gefangen, das mehr Teil des Problems als Teil der Lösung ist. Diese Widersprüche nagen am Selbstbild. Da fragt man sich schon: Schaffen wir das noch, kommen wir als Gesellschaft noch irgendwie auf einen guten Kurs? Und wenn ja, wie soll der aussehen?

Johanna: Ich sehe vor allem, wie Menschen konkret von Krisen betroffen sind. Eine gute Freundin von mir leidet existenziell an der Klimakrise. Sie möchte etwas verändern, sie möchte es richtig machen – aber sie sieht, wie wenig sie bewirken kann. Das gilt für verschiedene krisenhafte Situationen, in denen wir drinstecken – die Klimathematik, aber auch Corona. Die Menschen sind beunruhigt und angespannt. Schneidet man das falsche Thema an, kippt die Stimmung. Die zwischenmenschlichen Beziehungen leiden sehr unter diesen Spannungen.

Wie sollen wir darauf reagieren?

Johanna: Das tönt vielleicht etwas banal, aber ich bin überzeugt, dass das christliche Evangelium einen echten Ausweg aus dem aktuellen Dilemma bietet. Ich muss nicht die ganze Welt retten – das ist Gottes Aufgabe. Aber ich bin eingeladen, an meinem Ort, mit meiner Begabung einen Beitrag zu leisten und etwas zu bewirken. Das nimmt viel vom Druck weg, der einen überfordert, und befreit zum Handeln.

Matthias: Realistischerweise müssen wir aber zugeben, dass auch unsere besten Versuche immer wieder scheitern. Damit müssen wir rechnen. Ich sage damit nicht, dass wir nichts tun sollen. Aber die Welt hat eine natürliche Tendenz zum Schlechten, wenn man Gott ausklammert. Oft scheint es so, als ginge alles vor die Hunde. Das tönt jetzt krass, aber es sollte uns nicht beunruhigen. Aus christlicher Sicht bekennen wir: Am Schluss gewinnt Gott gegen alles Böse, gegen alles Leid. Er bringt seine Schöpfung zur Vollendung. Aus dieser Hoffnung können wir Gelassenheit schöpfen, egal wie die Umstände aussehen mögen.

Johanna: Das ist mir wirklich zu düster! Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir gemeinsam einiges bewirken können. Ich tendiere zur Aktion – mich frustriert es, wenn ich merke, dass ich nichts tun kann. Aber wir kennen das voneinander: Wenn es ein Problem gibt, dann zoomt Matthias heraus und versucht, das grosse Ganze zu sehen. Ich zoome hinein und frage mich, was das im Einzelfall bedeutet, wo ich konkret etwas verändern kann.

Also doch nicht die Hände in den Schoss legen?

Matthias: Wir brauchen eine Begründung, das Gute zu tun, auch wenn wir dabei scheitern sollten. Ich finde die Vorstellung tröstlich, die J.R.R. Tolkien in einer Kurzgeschichte skizziert: Der Maler Niggle verbringt sein ganzes Leben damit, einen wunderschönen Baum zu malen. Andauernd wird er unterbrochen und erlebt verschiedene Schicksalsschläge, so dass von seinem ganzen Werk schliesslich nur ein einziges Stück Leinwand mit einem Blatt des Baumes erhalten bleibt. Niggle tritt eine lange Reise an – ein Sinnbild für den Tod – und entdeckt genau jenen Baum, den er immer vor seinem inneren Auge sah: Grösser und schöner, als er ihn sich je vorgestellt hat, und inmitten einer Landschaft mit weiteren, ebenso schönen Bäumen. Ich bin überzeugt, dass die Resultate unserer irdischen Ambitionen wie das Blatt von Niggle eher kleinlich ausfallen. Gott aber gibt seinen Teil dazu und schenkt uns die Verwirklichung seiner besseren Vision, spätestens in der Ewigkeit.

Johanna: Ja, aber wir können auch tatsächlich Dinge verändern, schon hier und jetzt. Es gibt viele kleine Fortschritte und Erfolge – und es ist wichtig, dass wir diese sehen und sie feiern! Für mich ist es letztlich auch eine Frage der Theologie: Am Ende der Zeit wird Gott die Welt erneuern und an diesem Auftrag sind wir schon heute beteiligt. Gott beruft uns zu mündigen Mitarbeitenden in seiner grossen Mission. Das Gute, das wir tun – und ist es auch noch so klein – wird Bestand haben in Ewigkeit. Darum lohnt es sich, sich dafür einzusetzen.

Wo soll man denn ansetzen?

Johanna: Ein Schlüsselerlebnis war für mich mein Engagement in der Flüchtlingskrise. Damals wollte der Gemeindepräsident meiner reichen Heimatgemeinde sich mit seiner Hardlinerpolitik profilieren und lieber eine Busse bezahlen, anstatt die vom Kanton zugewiesenen Flüchtlinge aufzunehmen. Für mich und andere aus dem Dorf war klar, dass man da etwas machen musste. Relativ spontan hielt ich die Rede an der ersten Demo gegen die Gemeindepolitik. Darauf gründete ich eine Interessengruppe, mit der wir nach einer langen und aufreibenden Auseinandersetzung erreichten, dass unsere Gemeinde wenigstens zum Teil ihrer Pflicht nachkam. In dieser Zeit habe ich gelernt: Nicht jede Krise ist unsere Verantwortung, wir müssen nicht alles selber lösen. Aber es gibt solche geschenkten Gelegenheiten, in denen wir aufgrund einer aktuellen Situation mit unseren Begabungen einen Unterschied machen können. Ich darf mich auf das konzentrieren, was ich auf dem Herz habe – im Wissen, dass Gott neben mir noch mit vielen anderen Menschen unterwegs ist und sie beruft.

Welche Rolle spielt der Glaube in der Krise?

Matthias: Die Schweiz gilt ja als hartes Pflaster für den Glauben. Ich denke, das hat vor allem mit unserem Wohlstand zu tun. Wir haben sehr viele Möglichkeiten, uns selbst zu verwirklichen, sprich abzulenken.

Johanna: Die Corona-Krise rüttelt jetzt aber viele wach. Leute in meinem Umfeld beginnen, nach den wirklich grundlegenden Dingen zu fragen. So erzählte mir eine Nachbarin kürzlich: «Ich habe eine super Beziehung, eine tolle Wohnung und einen stabilen Job. Während dem Lockdown konnte ich endlich die persönlichen Projekte angehen, die schon lange auf meiner Liste standen. Jetzt ist mir langweilig und ich frage mich: Was soll ich denn noch tun, damit ich endlich zufrieden bin?» Das ist eine erstaunlich ehrliche Aussage, die mir früher nicht in dieser Form begegnet ist.

Matthias: Die Menschen merken, dass sie nicht weiterkommen. Es erinnert mich an die Geschichte des reichen, frommen Jünglings, der zu Jesus kommt und fragt, was er noch tun muss, um gerettet zu werden (Markus 10,17–27). Jemand hat mal die Antwort von Jesus so an den jungen Mann umschrieben: Er muss nicht einen weiteren Schritt auf seiner Leiter machen, sondern davon herunterkommen. Die Leiter steht an der komplett falschen Wand.

Gibt es weitere Beispiele für diese grössere Offenheit?

Johanna: Gerade im Umgang mit moralischen Fragen stelle ich fest, dass wir uns in einer Übergangszeit befinden. Vor einiger Zeit meinte ein Kollege von mir: «Ich mache einfach, was ich für richtig halte. Aber ich kann nicht erwarten, dass auch andere das so sehen.» Gleichzeitig herrscht eine teilweise sehr aggressive Empörungskultur. Die Menschen gehen für ihre Anliegen auf die Strasse und kämpfen für das, was sie als richtige, universelle Wahrheit verstehen.

Matthias: Natürlich gibt es immer noch die Menschen, die sich aus der Diskussion ziehen und finden, das sei jetzt einfach «ihre Meinung». Es ist wohl eher eine langfristige Entwicklung.

Johanna: Ich beobachte zwei verschiedene Tendenzen: Die einen werden kämpferisch, die anderen geben auf oder werden zynisch. Aber insgesamt findet schon ein Umbruch statt. Man kann wieder darüber reden, was richtig und was falsch ist oder welche Lebensführung die bessere ist. Es herrscht ein ganz anderes Klima als im postmodernen Denken, wo es nur individuelle «Meinungen» gab, die man auf keinen Fall jemandem aufdrücken will.

Ist die Corona-Pandemie eine Strafe Gottes?

Matthias: Solche Aussagen ärgern mich furchtbar! Das christliche Weltbild gibt uns viele Ressourcen, um das Zeitgeschehen einzuordnen, aber viel zu oft hört man nur Verkürzungen, die aus einer einseitigen Theologie stammen. Bei Corona gibt es ja durchaus Parallelen zu einem differenzierten Verständnis von Gottes Gericht. (Einen passenden Essay zu diesem Thema gibt es hier.) Man kann die Entstehung der Pandemie gut darauf zurückführen, dass die Menschen ihre Verantwortung gegenüber der Schöpfung und ihren Mitmenschen nicht wahrgenommen haben. Die Konsequenzen davon müssen wir nun ausbaden. Das Gericht besteht darin, dass im Licht dieser negativen Konsequenzen ein Haufen Unrecht und Zielverfehlung offensichtlich wird, der schon vorher da war. Gott schafft so in Zeiten des Leids Gelegenheiten zur Umkehr und Versöhnung. Das ist ein Aspekt der christlichen Hoffnungsperspektive.

Johanna: Da ist kein böser Gott, der die Menschen quält. In der Bibel lese ich von einem Gott, der seine Schöpfung mit liebevollem Blick betrachtet und den es schmerzt, wenn sie in Mitleidenschaft gezogen wird. Ein Gott, der nicht weit weg ist, sondern selbst in diese leidende Welt kommt und die grossen Probleme in die Hand nimmt. Wir dürfen wissen: Jesus ist der «Immanuel», «Gott mit uns». Er kommt zu uns und ist mit uns, gerade im Leid, in der Unruhe und Angst. Gott trägt uns – besonders dann, wenn es rüttelt und stürmt.

Matthias und Johanna Mahler-Gündel leben in Winterthur. Das Gespräch führte Jonas Bärtschi.