Die Corona-Pandemie ist ein Gericht Gottes – und das ist eine gute Nachricht. Ja, ich meine es ernst. Und nein, ich meine damit nicht, dass Gott uns für unsere Sünden straft. Aber beginnen wir von vorne.

Seit Beginn der Pandemie sind viele Deutungsversuche unternommen worden. Auch auf die Idee, COVID-19 als Gericht Gottes zu interpretieren, bin ich nicht als erster gekommen. Leider sind es meist die abstrusen und extremen Stimmen, die Gehör erhalten.

Angesichts der Fülle von theologisch imprägnierten Verschwörungstheorien könnte man als Christ versucht sein, zur Einordnung des Zeitgeschehens lieber pauschal den Mund zu halten. Das wäre ein Fehler. Ich finde, ein christliches Weltbild bietet viele wirklich gute Ressourcen, um die Geschehnisse in unserer verwirrenden Welt einzuordnen und im Kontext von Gottes Handeln neu zu begreifen. Ich möchte deshalb in diesem Essay skizzieren, wie uns das Verständnis von der Pandemie als Gericht Gottes hilft, in der aktuellen Lage Besonnenheit zu wahren, Schritte der Umkehr anzugehen und dabei neue Perspektiven der Hoffnung zu finden.

Das Gericht: Feuer und Schwefel oder sehnsüchtige Liebe?

Der Ausdruck «Gericht Gottes» weckt sofort Assoziationen. Ich möchte deshalb als erstes kurz einordnen, wie ich ihn verstehe und auf die Pandemie anwenden möchte. In der Bibel begegnet uns das Konzept vom «Gericht Gottes» grob in zwei Formen. Zum einen kennen wir Geschichten, in denen Gott Menschen im Rahmen einer zeitgeschichtlichen Krise mit unbequemen Tatsachen konfrontiert. Zum anderen kennen wir die Ankündigung, dass Gott die Welt am Ende der Tage einer abschliessenden Beurteilung unterzieht, dem «Jüngsten Gericht».

In beiden Fällen soll das Thema des Gerichts dramatische Bilder evozieren: Da tritt Gott mit Macht und Herrlichkeit auf den Plan, verlangt Rechenschaft, verurteilt Unrecht und stellt umfassende Gerechtigkeit wieder her. In diesem Essay möchte ich die Corona-Pandemie als Gericht in Form einer zeitgeschichtlichen Krise deuten. Ich glaube nämlich nicht, dass das Virus das Ende der Welt eingeläutet hat. Und es geht mir nicht darum, wer gerettet wird und wer nicht. Dazu gleich mehr. Vorweg aber noch zwei Einschränkungen.

Ich halte das Konzept vom zeitgeschichtlichen Gericht für gut geeignet, um kollektiv durchlebte Krisen zu deuten, nicht aber individuelle Leideserfahrungen. In den biblischen Erzählungen, die mir geläufig sind, adressieren zeitgeschichtliche Gerichte immer ein Kollektiv. Auch wenn Einzelpersonen wie beispielsweise König David im Fokus stehen, agieren sie als Stellvertreter für Gruppen, die dann den Handlungen ihrer Vorgesetzten und deren Konsequenzen wie selbstverständlich ausgeliefert sind.

Ich betrachte die Corona-Pandemie ebenfalls aus einer kollektiven Perspektive: als eine Krise, die wir als Christen, als Gesellschaft, als Menschheit gemeinsam durchleben.

Ich bin überzeugt, dass Gott sich dem persönlich erlebten Leid in der Pandemie viel direkter und tröstender zuwendet, als es meine Deutung kann.

Zweitens möchte ich das Konzept vom Gericht von der Idee des Bestrafens entfernen. Wir können fast nicht anders, als beides automatisch miteinander zu verknüpfen. Ich sehe die Quintessenz des zeitgeschichtlichen und des Jüngsten Gerichts aber darin, dass Gott das grassierende Unrecht und die verzweifelnde Zielverfehlung in seiner Schöpfung einfach nicht mehr aushält und etwas dagegen unternimmt.

Als Christen wissen wir, worin es gipfelte, dass Gott die heilsgeschichtlichen Zügel in die Hand genommen hat: im ultimativen Liebesbeweis vom Tod und der Auferstehung von Jesus Christus. Wir haben deshalb gute Gründe, als Ergebnis von Gottes Gericht einen Liebesbeweis und nicht eine Bestrafung zu erwarten.

Besonnenheit im Strudel des Zeitgeschehens

Ich habe gesagt, dass ich die Corona-Pandemie als zeitgeschichtliches Gericht deuten möchte und sie nicht für das Ende der Welt halte. Natürlich besteht zwischen dem zeitgeschichtlichen und dem Jüngsten Gericht aber ein innerer Zusammenhang. Ein gutes Verständnis davon kann uns helfen, gerade in der aktuellen Lage Besonnenheit zu wahren.

Dazu lohnt sich ein Blick in die Endzeitrede von Jesus im Markusevangelium (Mk 13, 3-37). Jesus beschreibt dort Kriege, Erdbeben, Hungersnöte und Verfolgung als Foreshadowing des Jüngsten Gerichts. Mir fällt auf, wie energisch Jesus dabei zur Besonnenheit aufruft: Erschreckt nicht, das ist bloss der natürliche Lauf der Welt. Er warnt auch davor, uns verfrüht einreden zu lassen, er sei schon wiedergekommen. Seine dramatischen Schilderungen machen klar: Wenn es wirklich so weit ist, wird es jeder Hinterletzte merken. Da besteht keine Gefahr, etwas zu verpassen.

Wenn wir christlich sozialisiert wurden, müssen wir wohl erst mal unsere dispensationalistischen Impulse zügeln: Die Pandemie ist nicht das Ende der Welt, das hätten wir sonst gemerkt. Und wenn sogar Jesus sagt, dass er den Zeitpunkt vom Ende nicht kennt, glauben wir da wirklich, dem Geheimnis durch komplizierte Zeitbetrachtungen selbst auf die Spur zu kommen?

Gleichzeitig ruft Jesus zur Wachsamkeit auf. Was er damit meint, hat er im Gleichnis von den beiden Dienern illustriert, die in der Nacht auf die Rückkehr ihres Herrn warten (Mt 24, 45-51). Der kluge Diener geht unbeirrt vom Ausbleiben des Herrn gewissenhaft seinen Verpflichtungen nach. Er lässt sich nicht mitreissen von Mutmassungen und den Verlockungen der Situation.

Von dieser Besonnenheit sollten wir uns auch in der Corona-Pandemie eine grosse Scheibe abschneiden. Wir alle haben uns sicher schon viel über die Pandemie-Extremisten auf beiden Seiten des Spektrums geärgert oder lustig gemacht. Aber seien wir ehrlich. Es ist auf Dauer gar nicht so einfach, diese kalt aufsteigende Angst im Zaum zu halten, wenn die Zahlen steigen. Oder den fein nagenden Zweifel niederzuringen und den Arm schon wieder zum Impfen hinzuhalten. Oder sich vom packenden Gefühl der Selbstermächtigung zu lösen, wenn man bei neuen Corona-Regeln am liebsten einfach mal Nein sagen würde.

Das Verständnis der Corona-Pandemie als zeitgeschichtliches Gericht erinnert uns an das Jüngsten Gericht und damit daran, dass Gott das Weltgeschehen im Griff hat.

Wir wissen: Krisen wie diese gehören zum gewöhnlichen Lauf der Welt. Wir sollten uns daher hüten vor all den Opportunisten, die uns weismachen wollen, jetzt sei endlich die besondere Zeit der Abrechnung gekommen.

Umgekehrt müssen wir uns nicht in Panik versetzen lassen von den Kurven der Fallzahlen und Spitaleintritte. Wir sind nicht auf uns allein gestellt, um diese prekäre Situation zu meistern. Das hilft uns, erst mal tief durchzuatmen. Und dann mit einem realistischen Blick für unsere Möglichkeiten an die Alltagsbewältigung heranzutreten.

Grenzüberschreitungen und Konsequenzen

Als nächstes möchte ich zeigen, wie wir in der Pandemie Gelegenheiten zur Umkehr entdecken können. Wenn ich verschiedene biblische Geschichten lese, die von zeitgeschichtlichen Gerichten handeln, dann fällt mir folgendes Muster auf: Zuerst überschreiten die Menschen spirituelle Grenzen und müssen die Konsequenzen davon ausbaden. Im Licht dieser Konsequenzen werden Unrecht und Zielverfehlung sichtbar, die vorher schon da waren. Gott, der schon lange vergeblich zur Umkehr aufgerufen hat, erhält in der Krise plötzlich Aufmerksamkeit und macht darauf aus der Krise eine Gelegenheit der Erneuerung. Dieses Muster wende ich im Folgenden auf die Corona-Pandemie an.

Zwei Aspekte an diesem Muster bereiten uns in der Regel Kopfzerbrechen. Sofort steht die Frage im Raum, welchen Anteil Gott am Ausbruch der Krise hat. Hat etwa Gott das Corona-Virus geschickt, und wenn ja, weshalb genau? Die Bibel spricht in diesem Zusammenhang vielstimmig. In gewissen Geschichten scheint Gott ein Gericht zu provozieren, einfach weil er kann, zum Beispiel als er David zu einer Volkszählung reizt und ihn danach zwischen einer Hungersnot, persönlicher Verfolgung und einer Seuche wählen lässt (2. Sam. 24).

Im Narrativ zum babylonischen Exil wiederum wird betont, dass Gott die Israeliten als logische Konsequenz davon, dass sie sich einfach nicht an ihn halten wollen, in die Hände ihrer Feinde übergibt. Bei Jesus schliesslich sind es die Menschen selbst, die das Gericht über sich bringen, weil sie lieber ihren finsteren Absichten nachgehen als in sein Licht zu treten (Joh. 3). Ich finde, das sollte uns dazu anhalten, hier nicht vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Entscheidend finde ich, dass das Resultat immer dasselbe ist: Die Menschen erhalten die Gelegenheit, Gott besser kennenzulernen und sind herausgefordert, sich ihm zuzuwenden.

Ein zweiter Aspekt, der uns Mühe bereitet, ist die Einordnung von spirituellen Grenzen. In unserem alltäglichen, säkular geprägten Denken gehen wir davon aus, dass spirituelle Ereignisse in einer Art Paralleluniversum stattfinden, das nichts mit unseren normalen, tagtäglichen Handlungen zu tun hat. Wir können uns nur schwer vorstellen, was die empirisch hinreichend nachvollziehbare Ausbreitung eines Virus mit den spirituellen Realitäten des Glaubens zu tun haben sollte.

Eine Geschichte aus 1. Samuel 5 illustriert gut, wie das anders aussehen könnte: Die Philister hatten von den Israeliten die Bundeslade erobert und im Tempel des Gottes einer ihrer Städte untergebracht. Nachdem dessen Statue verneigt und geköpft vor der Bundeslade aufgefunden wird und in der Stadt eine Seuche ausgebrochen ist, schieben die Stadtfürsten das offenbar göttlich belastete Artefakt wie eine heisse Kartoffel zwischen ihren Städten hin und her. Schliesslich kommen sie zur Einsicht, dass die Lade weg muss, stellen sie auf einen Wagen und treiben die vorgespannten Kühe damit fort. Interessanterweise machen die beratenden Weisen daraus eine sehr empirische Versuchsanordnung: Sollten die Kühe in das Gebiet der Israeliten laufen, sagen sie sich, steckt tatsächlich deren Gott hinter der Seuche. Wenn nicht, wäre es bloss Zufall gewesen.

Natürlich teilen wir nicht das Weltbild der Philister, die von Göttern mit ethnischen und geographischen Zuständigkeiten und konkurrierenden Machtansprüchen ausgingen, mit denen sich die Menschen arrangieren mussten. Aber wir tun gut daran, wie sie damit zu rechnen, dass die Welt von spiritueller Bedeutung durchdrungen ist. Schliesslich gehen wir als Christen davon aus, in einer gut geschaffenen, gefallenen, umkämpften und in Erlösung begriffenen Welt zu leben. Wir sollten erwarten, den damit verbundenen Spannungen auch in Zeitgeschehnissen wie der Corona-Pandemie zu begegnen.

Die Pandemie als Symptom unserer Selbstzentriertheit

Nun also konkret: Wie haben wir im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie spirituelle Grenzen überschritten und welche Konsequenzen hat das zur Folge? Ich finde, man kann die Entstehung der Pandemie leicht darauf zurückführen, dass die Menschen ihre Verantwortung gegenüber der Schöpfung und einander gegenüber nicht genügend wahrgenommen haben.

Folgen wir den Ursprungshypothesen, die von einer Übertragung aus dem Tierreich ausgehen, stossen wir schnell auf die rasante Zerstörung von natürlichen Lebensräumen und eine respektlose Wildtierindustrie. Gehen wir der Laborunfall-Hypothese nach, sind wir mit ambitiösen Forschungsprogrammen und kompromittiertem Risikomanagement konfrontiert. Diese kleineren und grösseren kollektiven wie individuellen Selbstzentriertheiten setzen sich auf dem Verbreitungsweg des Virus fort: vertuschen von Fehlern, politischer Opportunismus, persönliche Ignoranz, das Verdrängen des Problems. Wir brauchen da gar nicht anzufangen, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wir hätten es auch nicht besser gemacht. Und wenn wir ehrlich sind, sind diese menschlichen Selbstzentriertheiten eher Normalität als Ausnahme.

Die Pandemie ist ein Bilderbuch-Symptom einer gefallenen Menschheit, die in ihrer sorglosen Selbstzentriertheit den gesunden Bezug zur Schöpfung und zu sich selbst verloren hat.

Die Pandemie als Konsequenz davon müssen wir nun alle ausbaden. Dabei zeigen sich wie unter dem Brennglas die Verwerfungslinien unserer gefallenen Welt klarer als je. Über viele wurde schon ausgiebig geschrieben: das Wohlstandsgefälle zwischen globalem Norden und Süden im Wettlauf um begehrte Vakzine, das heuchlerische Bekenntnis zu Klimazielen bei gleichzeitiger Rettung der Flugindustrie, die Verschärfung praktisch aller sozialen Probleme während der Lockdowns. Den Spagat zwischen vernünftigen epidemiologischen Argumenten und absurd anmutenden Cornonaregeln, zwischen Solidaritätsforderungen und dem Alleingelassensein im komplizierten Pandemiealltag haben wir am eigenen Leib erfahren.

Hier möchte ich als nächstes auf zwei Bereiche fokussieren, in denen die Pandemie besonders in der Schweiz unser Selbstverständnis auf den Prüfstein stellt. Der erste Bereich ist unser Verhältnis zu den Systemen der Wohlstandsgesellschaft: Gesundheitswesen, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Der zweite Bereich ist unser Streben nach Selbstverwirklichung. Ich möchte skizzieren, wie die Pandemie damit verbundenes Unrecht und Zielverfehlung offenlegt und wie uns das Gelegenheit gibt, auf Gottes Rufe der Umkehr zu hören und Schritte der Umkehr anzugehen. Die Rufe der Umkehr, die ich in diesen Bereichen während der Pandemie höre, sind übrigens nicht neu. Schon vor 2000 Jahren hat Jesus seine Zeitgenossen damit zum Umdenken aufgefordert.

«Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und gebt Gott, was Gottes ist»

Die Pandemie hat die Sicherheitsversprechen unserer Wohlstandsgesellschaft erschüttert. Die Erschütterung ist subtiler als es auf den ersten Blick scheint. Nicht, dass unser Gesundheitssystem tatsächlich zusammengebrochen wäre. Aber die Gewissheit, dass wir jederzeit mit der bestmöglichen medizinischen Versorgung rechnen können, hat Risse bekommen.

Wir müssen auf einen freien Impftermin warten, geplante Behandlungen verschieben und wissen nicht, ob wir im Notfall vielleicht bald unter die Triage kommen. Diesem Gefühl des Kontrollverlusts begegnen wir in der Pandemie auf Schritt und Tritt: angesagte, verschobene und dann doch hybrid durchgeführte Veranstaltungen, das Hin und Her zwischen Anwesenheitspflicht und Homeoffice, die sich ständig im Fluss befindlichen Corona-Vorschriften und der politische Widerstand dagegen, impfmissionarische und verschwörungstheoretische Ausbrüche von Freunden und Verwandten oder Leute, denen im Zug der Kragen platzt, wenn der Kondukteur verlangt, dass sie die Maske richtig anziehen. Es hat erschreckend wenig gebraucht, um unsere prosperierende Wirtschaft, unser stabiles politisches System und unsere zuverlässige Fassade des Anstandes aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Die ständige Unsicherheit zwingt uns, unser Verhältnis zu diesen Pfeilern unserer Wohlstandsgesellschaft zu überdenken. Nach zwei Jahren mit Masken im Gesicht sollte uns klar geworden sein, dass wir nicht die autonomen Individuen sind, für die wir uns gehalten haben. Wir alle müssen jetzt spürbare Opfer bringen, um die Systeme zu schützen, die eigentlich uns schützen sollen.

Kann es sein, dass uns das so schwerfällt, weil wir bisher zwar gerne selbst profitiert, aber lieber andere haben zahlen lassen? Dass die Götter unseres Wohlstands Opfer verlangen, ist nämlich keineswegs neu. Die schwierigen Arbeitsbedingungen in der Pflege gab es schon vorher. Die sozialen und ökologischen Kosten unserer erfolgreichsten Geschäftsmodelle summieren sich an anderen Enden des Planeten. Politisch müssen sich die Stimmlosen regelmässig den Bequemlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft beugen. Und wer in einer persönlichen Krise steckt, bekommt schnell die Last der Verpflichtung gegenüber dem Arbeitsmarkt und dem sozialen Umfeld zu spüren.

Ein Schritt der Umkehr ist, dass wir unsere Pflichten gegenüber diesen Systemen als solche anerkennen: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Es ist ein Trugschluss, zu glauben, wir könnten uns da raushalten. Ich bin überzeugt, dass wir gerade als Christen dazu berufen sind, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und dabei das Wohl aller anzustreben (wer mir das nicht glaubt, dem empfehle ich die Lektüre von Jeremia 29). Anstatt zu versuchen, uns möglichst unbehelligt zu halten, können wir Gesundheitswesen, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft als Orte der Solidarität denken und im Rahmen unserer Möglichkeiten zu solchen gestalten.

Ein weiterer Schritt der Umkehr folgt aus dem ersten: gebt Gott, was Gottes ist. Das ist eine Aufforderung mit subversivem Potenzial. Als Christen wissen wir, wie liebevoll und energisch Gott um unsere ungeteilte Aufmerksamkeit wirbt. Die Pandemie entlarvt hier unsere inneren Zweigleisigkeiten.

Zeigt nicht unsere Sehnsucht nach Normalität, wie stark wir uns von der Hoffnung auf ein bequemes Leben und der Angst davor, es zu verlieren, antreiben lassen? Jetzt stecken wir im dritten Corona-Winter und weder die Impfung noch der politische Widerstand gegen die Massnahmen hat die Erlösung gebracht. Die Illusion, unser Leben selbst im Griff zu haben, ist zerbrochen. Zeit, umzukehren und sich zu besinnen, dass Gott der einzige Garant für Hoffnung und Sicherheit ist. Das lässt auch die irdischen Güter in einem neuen Licht erscheinen: Gesundheit, Lebensunterhalt, Freiheit und Friede sind letztlich Geschenke Gottes. Auch was der Kaiser gibt, muss er zuerst von Gott bekommen.

«Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber Schaden an sich selbst nimmt?»

Die Pandemie hat unsere Selbstverwirklichung zwangspausiert. Normalerweise gibt es immer viel zu viele Dinge, die man noch tun könnte, wollte oder sollte. Die Dynamiken, die uns antreiben sind perfid. Einerseits haben wir unzählige Möglichkeiten und meist auch die Mittel, uns von unangenehmen Aspekten unseres Lebens wie einer inneren Leere, schwierigen Beziehungen, der sozialen Verantwortung oder destruktiven Motivationen für unser Engagement abzulenken. Ein neues, sinnstiftendes Projekt tut einfach besser als diese alten Geschichten.

Andererseits ist da der ständige Druck, die Möglichkeiten, die sich uns bieten, auch zu nutzen. Wir wollen nicht undankbar oder, noch schlimmer, langweilig sein. Ein aktives, gefülltes Privatleben ist das wichtigste Statussymbol unserer Zeit. Deshalb denken wir, wenn andere erzählen, automatisch darüber nach, mit welchem Accessoire wir unsere eigene Biografie als nächstes schmücken könnten: eine Weltreise, ein kreatives Hobby, ein Häuschen als Liebhaberobjekt, diese Weiterbildung oder jener Kurs, ein Nebenbusiness, ein Sabbatical. Oder ein politisches, soziales oder kirchliches Engagement. Natürlich mit einer individuellen Prägung, die zur Erzählung unserer Persönlichkeit passt. Mein Ding.

Die vielen Optionen locken süss. Der soziale Druck peitscht unbarmherzig voran. Grassierende Erschöpfung und Depression zeigen, dass das seinen Preis hat. Wissen wir nicht schon lange, dass einfach zu viel läuft? Hobbys, Feiern, Engagement und Reisen sind gerade zum dritten Mal empfindlich eingeschränkt, obwohl wir auf Normalität gehofft haben. Ein Schritt zur Umkehr ist, sich nochmals zu fragen: brauche ich wirklich ein so vollgestopftes Leben wie vor der Pandemie? Die Einschränkungen haben gezeigt, dass es in vielen Bereichen auch langsamer und weniger intensiv geht. Wir sollten uns darauf besinnen, dass es uns rein gar nichts nützt, die ganze Welt zu gewinnen, wenn wir dabei an uns selbst Schaden nehmen.

Ich glaube nicht, dass es einfach mit einer generellen Entschleunigung getan ist. Unsere Aktivitäten sind nicht per se schlecht und können wunderbarer Ausdruck unserer Persönlichkeit sein. Um vom Tropf der Selbstverwirklichung loszukommen, müssen wir unsere Motivationen und Prioritäten überdenken. Ein weiterer Schritt zur Umkehr ist deshalb, sich von Ergebnis- und Statusorientierung zu lösen. Die Pandemie erleichtert das, weil sie gerade auf die Dauer gezeigt hat, was uns wirklich fehlt: die Gemeinschaft mit Freunden und Gleichgesinnten. Oder eben eine sinnstiftende Vision für unser Leben, die uns nur Gott bieten kann.

Drei Perspektiven der Hoffnung

Ich habe jetzt für zwei Lebensbereiche skizziert, was es bedeutet, die Corona-Pandemie als Gericht Gottes zu verstehen. Die Geschehnisse der Pandemie erleichtern es, Gewohnheiten des Unrechts und der Zielverfehlung als solche zu erkennen und Gottes Ruf zur Abkehr davon ernst zu nehmen. Dabei ist hoffentlich angeklungen, wie Erneuerung aussehen kann. Schritte der Umkehr anzugehen, ist immer auch eine Befreiung von der Knechtschaft unserer Selbstzentriertheit. Ich bin mir sicher, dass Gottes Ruf zur Umkehr für jeden und jede auch eine persönliche Note hat. Hören wir hin und lassen uns bewegen: Wo ruft Gott mich zur Umkehr? Ich hoffe sehr, dass wir nach der Pandemie nicht gleich weitermachen wie vorher. Aktuell stecken wir aber noch mittendrin. Deshalb möchte ich zum Schluss drei Perspektiven der Hoffnung aufzeigen, die ein Verständnis der Pandemie als Gericht Gottes bereits jetzt eröffnet.

Das Verständnis des Gerichts eröffnet die Option auf kollektive Trauer. Wenn wir die Corona-Pandemie als Gericht Gottes verstehen, anerkennen wir, dass wir die Ereignisse persönlich und als Gesellschaft nicht im Griff haben. Wann und wie die Pandemie endet, hängt nicht allein von uns ab. Wir brauchen nicht mehr länger die Fassade des Durchhaltens aufrechterhalten und so zu tun als würden wir das schon schaffen. Und uns ständig den Kopf darüber zu zerbrechen, was wir tun können und die anderen tun müssten, damit alles endlich vorbei ist. Stattdessen können wir uns gemeinsam sprichwörtlich in Sack und Asche kleiden. Wir können die Maske als Symbol der Trauer tragen. Wir können gemeinsam anerkennen, dass die Situation Scheisse ist. Dass wir uns ohnmächtig fühlen. Dass wir (alle!) versagt haben. Anstatt den Frust darüber aneinander auszulassen, können wir bei Gott lamentieren, der ein offenes und langmütiges Ohr für unsere Klagen hat.

Zum Verständnis des Gerichts gehört auch die Gewissheit, dass Gott nicht nur mit offenen Armen auf uns verlorene Söhne und Töchter wartet, sondern sich in Jesus selbst solidarisiert mit unserem Leid. Er steht auf unserer Seite. Wir dürfen mit ihm rechnen. Wenn wir von der ständigen Unsicherheit und Angst vor den Folgen des Pandemiegeschehen geplagt sind, erinnert er uns, dass uns letztlich nichts wirklich existenziell etwas anhaben kann, nicht einmal der Tod. Wenn wir vom Pandemiealltag überfordert sind und am Ende unserer Kräfte angelangen, verspricht er uns, uns neu zu beleben, wenn wir zu ihm kommen.

Als letztes zeigt uns die Perspektive vom Gericht, dass wir nicht auf die Normalität warten müssen, um uns endlich wieder um die wichtigen Dinge im Leben kümmern zu können. Wenn wir uns von unseren falschen Hoffnungen abwenden, haben wir Kapazität, uns um Gottes Aufträge an uns zu kümmern. Als erstes fällt mir hierzu der Missionsauftrag ein. Viele Menschen sind durch die Pandemie gezwungen, sich existenziellen Fragen zu stellen, und merken, dass ihr bisheriger Lebensentwurf an Grenzen stösst. Vielleicht gibt es hier Anknüpfungspunkte bei Freunden, Bekannten oder Nachbarn? Als zweiten Auftrag sehe ich das Gebot der Liebe von Jesus: «Liebt einander, wie ich euch geliebt habe». Das gilt auch für Personen, die in Pandemiefragen anderer Meinung sind. Vielleicht können wir über unseren eigenen Schatten springen und das Thema Impfen gegenüber Menschen in unserem Umfeld seinlassen oder selbst endlich angehen? Die Pandemie wird uns noch mindestens diesen Winter beschäftigen. Vielleicht müssen wir wieder in einen Lockdown, in Quarantäne oder uns weiteren Massnahmen stellen. Wenn es so weit ist, haben wir die Wahl: Wir können es mit der Faust im Sack machen. Oder wir können es in Liebe zueinander zu tun.

Danksagung

Vielen Dank an Christoph und Johannes, die mir im Rahmen der VBG Apologetikschulung MEHRGRUND-Training geholfen haben, meine Gedanken zu schärfen. Danke an Johanna, die mit ihrem treffsicheren Lektorat jeden Text besser macht, als man es ihm zutraut.