Wie wir zu einem Glauben kommen, der auch in Krisen trägt.

 

Als marxistischer Student fand Felix Ruther in der VBG zum christlichen Glauben. Er plädiert für eine Jesus-Nachfolge, die in die Mündigkeit führt – nun schon seit vier Jahrzehnten.

Felix Ruther, in unserer Gesellschaft spielt der christliche Glaube kaum mehr eine Rolle. Was ist zu tun?

Ich bin überzeugt, dass die Weitergabe des Glaubens nur noch am Rande durch orthodoxe Lehre geschehen wird. Es reicht nicht mehr, von der lebensverändernden Auferstehungshoffnung zu reden, heutige Menschen wollen das auch erfahren. Zuerst muss der Glaube vorgelebt werden. Dann kommt das Gebet. Beten ist eine «systemverändernde Tätigkeit». Leben teilen, gemeinsames Mahl, Lehre und Taufe sind immer noch Eckpfeiler der Christusnachfolge.

Ich denke, dass ein korinthischer Hafenarbeiter im ersten Jahrhundert von der Theologie der Jesus-Nachfolger nicht viel verstanden hat. Doch er erlebte, dass Freie, Sklaven, Frauen und Männer, Juden, Griechen, Reiche und Arme zusammenkamen und miteinander Mahl und Leben teilten – und das alles wegen diesem Jesus. Das muss sehr einladend gewesen sein.

Wo stehen wir heute im Hinblick auf diese Einheit?

Kürzlich las ich den Satz von Karl Albietz: «Früher dachte man, dass Einheit nur auf der Basis der gleichen Lehre möglich sei.» Ich befürchte, dass das «früher» noch nicht ganz vorbei ist. Wenn ich irgendwo von der Liebe predige, kommt meist die Mahnung: Die Liebe muss mit Wahrheit gepaart sein. Das stimmt. Aber ich bin der tiefen Überzeugung, dass Paulus es richtig gesehen
hat, wenn er unsere Wahrheitserkenntnis Stückwerk, die Liebe aber das einzig Bleibende nennt. An unserer Liebe wird die Welt erkennen, dass
Jesus von Gott gesandt wurde, steht im Johannes­evangelium.

Als 1996 meine Wahl zum VBG-Leiter stattfand, schlug ich vor, anstelle des spezifischen Glaubensbekenntnisses zu den klassischen Bekenntnissen der Kirchen zurückzukehren. Der Leitgedanke dahinter war, dass wir nicht meinen sollten, nur wir hätten den einzig richtigen Zugang zu Gott gefunden. Das ist die Voraussetzung, um aus verschiedenen christlichen Traditionen lernen zu können.

Wie hast du selber zum Glauben gefunden?

Ich wuchs in der katholischen Diaspora von Zürich auf. Regelmässiger Kirchgang, Tischgebet und die Segnung mit Weihwasser vor dem Gang in die Schule gehörten bei uns einfach dazu. Eine inhaltliche Verarbeitung des Glaubens fand aber nicht statt. Später rissen mich die Jugendunruhen der Achtundsechziger mit. Ich fragte mich, was in unserer Gesellschaft schief läuft, und wie mehr Gerechtigkeit für die Schwachen und Randständigen wachsen könnte. Ich würde aber nicht von einem Bruch mit dem Glauben sprechen, denn viele dieser Anliegen fand ich später auch in der Bibel vor. Ich war als Marxist nicht gegen Gott, sondern gegen die Herrschenden der Gesellschaft, die das «Volk» ausbeuten. Das Anliegen der Gerechtigkeit und ein gewisses Misstrauen dem «Kapital» gegenüber prägen auch heute noch mein politisches Denken.

Wie ging es weiter?

Während dem Studium lernte ich meine heutige Frau Sibyl kennen und merkte, dass sie ihre christliche Weltanschauung mit grösserer Konsequenz lebte als ich meinen Marxismus. Das öffnete mich zunehmend für ihre Argumente für den Glauben. Die Weise, wie sie beim Beten direkt mit Gott sprach, berührte mich. Ein Schlüsselmoment war, als sie mir aus 1. Korinther 14 den Text zum «Sprachengebet» vorlas. Mir kamen die Tränen. Der Heilige Geist hatte mich auf dem linken Fuss erwischt und mich in meiner Selbstsicherheit erschüttert. Von da an war ich offen wie ein Schwamm. Im Florenzlager der VBG sprach ich dann spät am Anreisetag vor Zeugen mein Bekehrungsgebet. Ewald Rieser und Rolf Lindenmann, die beiden Leiter, legten mir die Hände auf und baten um Erfüllung mit dem Heiligen Geist. Eine ungeheure Freude überkam mich! Als erste Frucht der Geistes-Gegenwart merkte ich schon am nächsten Morgen, wie die Bibel zu mir persönlich sprach.

Dabei bist du eher der rationale Typ.

Die Vorstellung ist sehr verbreitet, dass das Wirken des Heiligen Geistes vor allem im «Spektakulären» zu suchen sei. Zum Beispiel beim Predigen: Das Spontane, das ich in Abweichung von meiner schriftlichen Vorbereitung sagen könnte, kommt in dieser Sichtweise eher vom Heiligen Geist und ist somit wertvoller als das, was ich geplant habe. Diese Einengung kann für rational veranlagte Menschen zum Probleme werden. Dabei weht doch der Geist, wo er will! Er lässt sich nicht reglementieren oder in ein theologisches Schema pressen. Rechne in allen Lebenslagen mit dem Heiligen Geist und der Rest wird sich ergeben! Gleichzeitig sollten wir eine gesunde Skepsis nicht vorschnell aufgeben und die diversen «Eindrücke» mit nüchternen Verstand prüfen. Ich selber misstraue einer Heiliggeistbewegung, die sich nur in der Innerlichkeit abspielt und deren prophetische Eindrücke nicht zu den Armen und Randständigen führen.

Auch während deiner Zeit als VBG-Mitarbeiter hast du charismatische Erfahrungen gemacht.

In einem Moscia-Camp für Mittelschülerinnen und Mittelschüler starteten wir den abendlichen Gottesdienst mit ein paar Liedern. Dann übernahm der Heilige Geist – die Leitung entglitt uns völlig. Es begann damit, dass ein Mädchen aus unserer Runde – wir waren etwa 35 Personen –, plötzlich laut aufschluchzte und rief: «Er ist da!» – sie meinte Gott. Andere stimmten ein, begannen laut Gott zu loben. Kleine Gebetsgrüppchen fanden sich da und dort. Dann riefen alle Jesus in einer ersten oder erneuten Hingabe als Herrn an. Viele fielen auf die Knie und beteten laut. Dann entstand in einer Ecke ein Summen, das zu einem lauten Gesang anschwoll, in den die meisten einstimmten. Manchmal herrschte wieder eine innige Stille – höchsten unterbrochen durch leises Schluchzen und Gebetsgemurmel. So ging es mehr als drei Stunden weiter. Als es auf Mitternacht zuging, habe ich den Abend abgeschlossen und die Leute ins Bett geschickt.

War dieses Erfahrung ein Einzelfall?

In dieser Dichte schon. Und leider sind nach dem Mosciacamp nicht alle bei ihrer Entscheidung geblieben. Aber auch in den gottesdienstlichen Zusammenkünften der Studi-Gruppen oder bei sogenannten «Pray-Ins», die während Kursen in Moscia oder Rasa stattfanden, gab es eindrückliche Bilder, Sprachengebete mit Interpretation und oft auch Worte, die in der jeweiligen Situation klärend oder wegweisend waren.

Und heute?

Die «Pray-Ins» waren unverplante, gemeinsam gestaltete Zeiten vor Gott. «Wenn ihr zusammenkommt, trägt jeder etwas bei», schreibt Paulus (1. Korinther 14,26). Das ist selten geworden. Mich beunruhigt ein Trend, den man als „Entmündigung der Gläubigen durch Professionalität“ bezeichnen könnte. In vielen Gottesdiensten zerfällt die Gemeinde in die Gruppe der Macher und jene der Konsumenten. Es gibt kein offenes Mikrophon, keine Zeit der Stille, in der die Gemeinde auf Gottes Einflüsterungen hören könnte – und auch keinen Raum, um diese Eindrücke der Prüfung vorzulegen. Wenn wir in der VBG die Mündigkeit der Christen als zentrales Anliegen betrachten, dann müssen wir dem allgemein herrschenden Professionalisierungsdruck widerstehen. Wenn wir das allgemeine Priestertum wieder ganz ernst nehmen, angefangen in unserer Ehe- und Familiengemeinschaft, über den Hauskreis, die VBG-Treffen und bis zum grossen Gottesdienst, dann dürfen wir erwarten, dass unsere Eingebungen an Reife zunehmen, die einzelnen Teilnehmenden allmählich der Konsumhaltung entwachsen und die Mündigkeit der Gläubigen zunimmt.

Was zeichnet einen mündigen Glauben aus?

Ich finde es wichtig, dass wir einen Zugang zur Bibel vermitteln, der weder in den fundamentalistischen Sackgassen endet noch in einem unbestimmten Nirgendwo. Wir müssen nicht Abschied von unseren Grundüberzeugungen nehmen. Doch sollten wir uns bewusst sein, dass es der Heilige Geist ist, der uns die Gewissheit ins Herzen schreibt – und nicht diese Überzeugungen.

Dein eigener Weg war auch nicht immer einfach.

Nach zehn Jahren in der VBG befand ich mit meinem damaligen Lebensstil am Rande eines Zusammenbruchs. Ich spürte nichts mehr von Gott. Innerlich leer und ausgelaugt, zerfielen meine frommen Konzepte und der Traum von meiner eigenen Grösse. Das war einerseits sehr schmerzhaft, andererseits aber auch zutiefst reinigend.

Was halft dir in dieser Zeit?

Ich begann wie ein Ertrinkender einfach Psalmen zu rezitieren. Am Ende meines Psalmenbüchleins entdeckte ich dann die Buchstaben U.I.O.G.D. und fragte mich, was sie bedeuteten. Nach langer Suche – Internet gab’s ja noch nicht – entdeckte ich, dass es die Abkürzung für einen Bibelvers in Latein war: Ut in omnibus glorificetur Deus – «dass in allem Gott verherrlicht werde» (1. Petrus 4,11). Dieses Wort fiel mir ins Herz. Ein Seelsorger hatte mir in meiner Krise einen Satz von Zwingli zitiert, der Gift für mich war: «Du bist ein Werkzeug Gottes, er will dich brauchen, nicht schonen.» Nun wurde mir bewusst, dass ich Gott auch im Ruhen und Nichtstun ehren kann – einfach durch mein Dasein.

Was braucht es, damit der Glaube auch in Krisenzeiten trägt?

Lernt Stille zu halten, übt das Hören auf Gottes leise Stimme! Das braucht Zeit und man muss es einüben, gerade in unserer lauten Gesellschaft. Wenn ich die Beziehung zu Gott in guten Zeiten nicht pflege, dann wird es mir in Krisenzeiten vermutlich schwer fallen, bei Gott Schutz, Wegweisung und Trost zu suchen und zu finden. Auch das Eingebettetsein in eine konkrete Gemeinschaft von Glaubenden ist wichtig: Wenn mein Glaube zu verschwinden droht und mir Gott irgendwie abhanden kommt, dann glauben andere für mich und helfen mir auf zu neuen Schritten ins Vertrauen. Authentizität ist eine ganz zentrale Eigenschaft. Christinnen und Christen müssen sich ihren Zweifeln und ihrer Verzweiflung ehrlich stellen. Wenn viele theologische Sicherheiten wegbrechen, ist das auch eine Chance, zum Zentrum des Glaubens vorzudringen, zum gekreuzigten und auferstandenen Jesus zu kommen – und nicht nur zu einer Lehre über ihn.