Bruchstellen – oder wenn
Gewissheiten bröckeln

 

Die Welt, in der wir leben, konfrontiert uns täglich mit Ungereimtheiten und Widersprüchen. Gerade in jüngster Zeit tun sich da Bruchstellen auf, die man nicht für möglich gehalten hätte: eine Pandemie, der bewaffnete Konflikt in der Ukraine, weltweite Aufrüstung, ungeklärte Fragen rund um Klima und Energieversorgung, und rings um diese ‘heissen Eisen’ entstehen Fronten, Kontroversen und zum Teil erbitterter Streit. Aber auch unsere persönliche Existenz mutet uns fortwährend Rätsel und Fragezeichen zu: stabil geglaubte Beziehungen werden auf die Probe gestellt, wir fallen aus bislang tragenden Sicherheiten heraus, Gewissheiten bröckeln, und selbst die Grundfesten unseres Glaubens kommen ins Wanken – vieles geht einfach nicht auf und entzieht sich einer logischen Erklärung.

Widerspricht sich die Bibel?

Und wenn wir uns aufmachen, um ernsthaft nach Gott zu fragen und in der Bibel nach Antworten zu suchen, dann stossen wir auch da auf manchen Stolperstein und auf Dinge, die wir nicht zusammenbringen: der menschenfreundliche, grenzenlos grosszügige himmlische Vater und der unbestechliche Weltenrichter; die freie Einladung zum grossen Fest und die Aufforderung zu einem Leben innerhalb eines Rahmens, den Gott vorgibt. Genügt ein einfaches, beherztes Amen, um den Anschluss an Gottes neue Welt zu finden, oder braucht es ein detailliertes Bekenntnis? Überwiegt die biblische Grundmelodie des «Fürchte dich nicht!» oder ist die Furcht des Herrn das unumgängliche Zugangskriterium? Dürfen wir uns in dieser Welt zuhause fühlen und uns darin niederlassen oder müssen wir sie meiden und von uns fernhalten, weil sie feindliches Territorium ist? Schafft Gott unserer Seele und unseren Füssen einen weiten Raum oder gilt es, uns der Enge der schmalen Pforte und des steinigen Pfades zu stellen?

Kein vorschnelles Entweder-oder

Im Laufe meiner langen Jahre als Bibelleser und Bibel­vermittler ist mir zunehmend klar geworden, dass sich biblische Wahrheiten häufig nicht linear, sondern dialektisch, also in Gegensatzpaaren darbieten. Was zunächst als Widerspruch wahrgenommen wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als komplementär, als sich gegenseitig ergänzend. Unser natürliches Empfinden und unsere Alltagslogik tendieren ganz klar dazu, in all diesen Fragestellungen ein Entweder-oder zu postulieren. Doch Tatsache ist, dass uns die Bibel jeweils beide Seiten zumutet, dass sie diese in der Regel unversöhnt nebeneinander stehen lässt und offenbar nicht einmal Harmonisierungsversuche unternimmt. Ich habe mich im vorliegenden Buch mit diesen scheinbaren Gegensätzen in exemplarischen Themenfeldern auseinandergesetzt und möchte dazu ermutigen, nicht einem vorschnellen Entweder-oder zu erliegen, sondern diese Spannungsbögen auszuhalten und dabei einen neuen, befreienden Blick zu bekommen für das Ganze, für die beiden Seiten der einen biblischen Wahrheit, die in die Weite führt.

Jesus als Brennpunkt der Spannungsfelder

Nein, die Gegensätzlichkeiten lösen sich nicht in Luft auf; im Gegenteil: sie werden bei genauerem Hinsehen unausweichlicher und kantiger. Aber all diese sich zum Teil widerstrebenden Gedankenlinien finden in Jesus Christus ihren gemeinsamen Brennpunkt; seine Person ist der Inbegriff und Höhepunkt aller Gegensätzlichkeiten: wahrer Gott und wahrer Mensch, wie die frühen Glaubensbekenntnisse der Christenheit festhalten, Lamm Gottes und Löwe von Juda – gibt es einen grösseren Kontrast als Lamm und Löwe? Exemplarisch finden wir ihn beispielsweise in jener Szene, wo Jesus den Jüngern die Füsse wäscht (Johannes 13): Der König der Könige kniet vor seinen Jüngern nieder und erweist ihnen den geringsten Sklavendienst. Verständlich, dass Petrus rebelliert – später wirst du es begreifen, erwidert Jesus auf seine Weigerung. Dieser Hoffnung auf ein späteres Begreifen will auch ich mich von Herzen anschliessen!