In christlichen Kreisen hat die Postmoderne gemeinhin keinen guten Ruf. Man versucht zwar, die neuen Trends aufzunehmen; gleichzeitig kämpft man an allen Fronten gegen die Erosion «christlicher Werte» und den Verlust eines politisch und gesellschaftlich verankerten Christentums. Beide Ansätze sind, für sich allein, zum Scheitern verurteilt, weil sie zutiefst missverstanden haben, wie es zu dieser tiefen Zäsur in der westlichen Kulturgeschichte gekommen ist – so lautet das Fazit der Weiterbildungswoche 2013 mit Hanswalter Stäubli, an der alle VBG-Angestellten teilgenommen haben. 

Die christlichen Reaktionen auf die Herausforderungen der Postmoderne offenbaren uns, welches Selbstbild der Leib Christi von sich hat. Es ist ein unreflektiertes Selbstbild. Was tun Christinnen und Christen heute? Sie verweisen auf die kulturellen Errungenschaften des abendländischen Christentums und sind stets mit grossem Einsatz darum bemüht, ihren Einfluss in der Gesellschaft zu erhalten. Das gilt auch für die VBG. In beängstigender Weise wiederholen wir die Tragödie Israels, das nicht auf die warnenden Stimmen seiner Propheten hörte, sondern nur auf jene falschen Propheten, die zwar theologische Wahrheiten aussprachen, aber die Zeichen der Zeit nicht erkannten.

Das Schweigen der Kirche

Was aber sind die Zeichen der heutigen Zeit? Und wo sind die Propheten, die uns darauf hinweisen? Sie sind rar. «Die ‹prophetische› Stimme der Kirche ist verstummt, es ist wie wenn ihr prophetisches Amt suspendiert wäre», schreibt der Theologe Theodor Haecker schon 1940 in einem Tagebucheintrag. Er verweist damit auf eine Entwicklung, die mit dem Übergang der frühen Kirche zur etablierten Staatsreligion eingesetzt hat und bis heute andauert.

Sie ist eng verknüpft mit der Stellung der Eschatologie – also der Lehre «der letzten Dinge» – in der Theologie. Im westlichen Christentum war und ist die Auseinandersetzung mit der Endzeit und den biblischen Andeutungen zum Antichristen nur ein Randthema. «Über ihn [d.h. den Antichristen] schweigt die gegenwärtige Kirche, er kommt nämlich den biblischen Andeutungen zufolge aus der Kirche selber. Deshalb entstand eine Art clerical correctness, über ihn nicht zu sprechen», kommentiert Manfred Seitz (Theologie für die Kirche, 2003).

Wo die Kirche über zentrale Themen schweigt und ihrem Auftrag nur ungenügend nachkommt, entsteht ein Vakuum, das eine Angriffsfläche für antichristliche Kräfte bietet. Wie schon die Schlange im Paradies, zeichnen sich diese Kräfte dadurch aus, dass sie zwar mit göttlichen Wahrheiten argumentieren, sie aber in einer zutiefst zerstörerischen Absicht anwenden. Diese Einsicht lässt sich auch in umgekehrter Richtung anwenden: Weil sie immer im blinden Fleck der Kirche agieren, können antichristliche Stimmen insofern hilfreich sein, als dass sie auf tatsächliche Probleme im Leib Christi hinweisen.

Den blinden Fleck erkennen

Dieses Phänomen lässt sich exemplarisch an den Religionskritikern des 19. Jahrhunderts aufzeigen. So porträtiert Friedrich Engels, ein enger Mitarbeiter von Karl Marx, den Sozialismus als Lösung eines Problems, das das Christentum nur unzulänglich anzugehen vermochte: «Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft» («Zur Geschichte des Urchristentums», 1894).

Der blinde Fleck der Kirche, in dem der Sozialismus operiert, ist ein einseitiges Reich-Gottes-Verständnis, das die Erlösung durch Jesus Christus primär als rein geistliche Angelegenheit betrachtet und ihre gesellschaftlich-politische Dimension im Diesseits vernachlässigt. Auf diesem wirklichen Manko der Kirche baut die marxistische Religionskritik, die im Grunde nichts anderes ist als die Folge eines unvollständigen bzw. verzerrten Evangeliums, auf.

Bei Friedrich Nietzsche wird es noch fundamentaler, weil seine Kritik des Christentums einen zutiefst christlichen Ansatz hat. «Urteilt nicht!», sagt Jesus in der Bergpredigt.1 In Anlehnung daran benennt Nietzsche das Problem, das mit jeglicher moralischen Wertung, erst recht auf christlicher Grundlage, verbunden ist: Man kann nicht moralisch urteilen, ohne sich selbst ein Urteil zu sprechen.

Darum lehnt Nietzsche aus moralischen Gründen das Christentum ab, das mit seinem verkümmerten Reich-Gottes-Verständnis je länger je mehr zum Moralapostel verkam: «Der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christentum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung». Wieder ist es eine zutiefst biblische Wahrheit, die im Kern dieser Kritik steckt. Dieser Kern zeigt sich am deutlichsten im persönlichen Blick auf das Kreuz. «Ich hätte bei der Kreuzigung Jesu nicht mitgemacht» – was sagt das über mich, wenn ich so denke? Es zeigt mir genau jenen Hochmut, der den Kern der Auflehnung gegen Gott bildet. Es ist das Verdienst von Nietzsches Kritik – im Guten wie im Bösen –, dass sie diese stets drohende Blindheit in der christlichen Selbstwahrnehmung demaskiert.

«Werte» als Machtinstrument

Aus der Heuchelei des westlichen Christentums, das nicht vom hohen Ross seines moralischen Hochmuts herunterzukommen gewillt ist, folgt Nietzsches Bruch mit der Kirche. Mit ihm wendet sich die geistige Elite einer ganzen Generation der befreienden Erlösungsbotschaft Nietzsches zu – und verfällt damit erst recht dem von Nietzsche diagnostizierten Nihilismus. «Während die europäischen Volkskirchen um die Jahrhundertwende trotz Industrialisierung und Verstädterung mit gefüllten Seminaren und neuen Kirchenbauten eine Blütephase erlebten, nimmt von hier die religiöse Sinnentleerung der Gesellschaft ihren Ausgang», schreibt Kurt Anglet («Macht und Offenbarung», 2009).

Das ist es, was Nietzsche mit seinem vielzitierten «Gottesmord» meint: die radikale Abwendung von Gott – nicht trotz, sondern wegen der Geschichte des Christentums in Europa. Darauf muss, so sein Gedankengang, ein neuartiger Kampf um Einfluss beginnen. Denn wo nichts mehr (Gott-)gegeben ist, bestimmen diejenigen, die sich am besten durchsetzen können.

Damit erfolgt auch die Relativierung aller Werte, denn wenn es keinen Gott gibt, gibt es kein absolutes Gut oder Böse. Man kann zwar «Werte» formulieren und daraus eine Moral ableiten, doch wird die Willkür dieser Werte unweigerlich das offenbaren, was nach Nietzsche letztlich hinter allen Werten steckt: «Alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde.»2 Was nun, wenn das auch mit den viel gerühmten «christlichen Werten» geschieht?

Nietzsches Schriften nahmen in geradezu prophetischer Weise die Entwicklungen und grossen Umstürze des 20. Jahrhunderts vorweg: «Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden [d.h. dem Christentum] in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. (…) Es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt.»3

Die Weltkriege, der Wertezerfall, der ideologische Kampf um Einfluss und Deutungsmacht im Zeitalter der Postmoderne – dass sie mit ihrem Versagen zur Katastrophe beigetragen, sie gewissermassen sogar ausgelöst hat, entging – und entgeht wohl noch heute – einem Grossteil der Kirche.

Tatsächlich fällt das Eingeständnis dieser Schuld nicht leicht. Doch sollte es uns erstaunen, dass Christen nicht die besseren Menschen sind, dass auch uns nichts anderes bleibt, als beschämt und schuldbeladen vor Gott zu treten? «Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder» schreibt Paulus (Römer 3,23). Genau dies ist das Evangelium: dass alle, wirklich alle, schuldig sind und Vergebung nötig haben – und dass Gott durch Jesus Christus allen diese Vergebung schenkt.

Ein neues Geschichtsverständnis

Wie aber soll Glaube, wie soll Kirche aussehen nach Jahrhunderten christlicher Arroganz? Wir müssen – und dürfen – ein neues Geschichtsverständnis entwickeln als kollektives Volk Gottes. Wir haben in der Wüste gemurrt und vor Pilatus geschrien, wir haben unsere jüdischen Brüder und Schwestern verfolgt und unsere prophetische Stimme verloren in einer Zeit, in der sie nötiger gewesen wäre als je zuvor. Dafür können wir Busse tun und Schuld eingestehen – und auf jene Hoffnung verweisen, die auch unsere Hoffnung ist. Die Menschen um uns her, die genauso nach Neubeginn lechzen wie wir, sollen Erlösung gepredigt bekommen – und nicht noch einmal Moral.

Gott wirkt im Exil

In mancherlei Hinsicht befinden wir uns in einer Zeit des Exils. Diese Zeit ist auch eine Segenszeit und eine Zeit der Besinnung. Es ist die Zeit, die Gott gebrauchen möchte, um uns als Individuen und als kollektiven Leib Christi neu zu formen. Dietrich Bonhoeffer hat es so formuliert: «Die Umschmelzung [der Kirche] ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen – , an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden, die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt.»4