Befreit und gerufen

Was ist das Einzigartige an Jesus? Und was hat das mit den Sorgen, Freuden und Herausforderungen unseres Alltags zu tun? Die Predigt von Heiner Schubert zum VBG-Fest 2010 bringt es auf den Punkt.

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Fascinare heisst auf Lateinisch «beschreien, behexen». Ich bin von Jesus fasziniert, und das ist o.k., auch wenn das Wort ursprünglich aus finsteren, heidnischen und okkulten Wurzeln stammt. Weil nach Johannes und dem Kolosserbrief Jesus schon ganz am Anfang – bei der Erschaffung der Welt – dabei war, beunruhigt mich das nicht. Er ist allem Finsteren defnitiv überlegen. Er ist der Herr.

Das ist das erste, was mich an ihm fasziniert: Er gibt mir Unabhängigkeit. Unsere Freiheit wurde durch den Tod des Sohnes Gottes teuer erkauft. Niemand kann uns in neue Fesseln legen, denn Gottes Sohn ist auferstanden. «Eure Herren gehen – unser Herr aber kommt!» rief Gustav Heinemann, der spätere deutsche Bundespräsident, 1950 den Teilnehmern des Evangelischen Kirchentages zu.

Gebunden von Glamour und Werbung

Mich fasziniert an Jesus, dass er mich befreit. Er macht mich frei von den Ansprüchen, die andere an mich haben. In früheren Zeiten wären die meisten von uns wohl Leibeigene oder Knechte gewesen. Die wenigsten hätten als edle Ritter oder betörende Burgfräuleins gelebt. Der menschliche Drang, sich andere zu unterwerfen, ist jedoch durch die Aufklärung nicht verschwunden.

Heute sind die Mechanismen einfach subtiler. Es sind selten mehr Fürsten und Barone, die Macht über uns haben wollen. Menschen unterwerfen sich freiwillig: Sie verkaufen ihre Seele für einen Moment der Berühmtheit an die Medien, oder sie leihen sie für etwas Sicherheit und Wohlstand ihrem Arbeitgeber. Die Medien und die Firmen freut’s. Die Werbung verheisst uns Glück, wenn wir dieses oder jenes Produkt kaufen. Die erfolgreichsten Firmen sind die, welche die grösste «Kundenbindung» erzielen. Wir sind Gebundene – durch Verträge und Kontrakte; wir überschreiben nur zu gerne die Verantwortung für unser Leben an den, der uns Sicherheit verspricht.

Alle diese Herren gehen. Unser Herr aber kommt. Er macht mich frei von meinen Ängsten, die mich in die Arme windiger Geschäftemacher oder listenreicher Ideologen treiben. Jesus ist ganz schön subversiv: Er befragt meine Sehnsüchte nach ihrem Gehalt und deckt auf, wer sich meiner Sehnsüchte für seine eigenen Ziele bedienen will. Die Freiheit, zu der er mich einlädt, bringt die heilige Teresa von Avila wunderbar auf den Punkt: Solo dios basta – «Gott allein genügt».

Befreit von fremden Ansprüchen

Jesus macht mich frei von den Ansprüchen anderer Menschen. Vor einigen Jahren traf ich an einem Seminar Prinz Wilhelm XXVIII. von Soundso. Dieser Mensch ist der achtundzwanzigste Wilhelm, und er wird den neunundzwanzigsten hervorbringen müssen. Das will die Familie – und die Tradition.

Wir lachen. Aber, liebe Eltern, überlegt euch doch einmal, womit ihr eure Kinder an euch bindet: Müssen sie ewig dankbar sein für all die Opfer, die ihr gebracht habt? Sollen sie es einmal weit bringen? Oder geht es nur ums Weihnachtsfest, wo bitteschön alle da zu sein haben?

Aus Seelsorge und Therapie und aus dem eigenen Leben kenne ich abenteuerliche Geschichten von Festlegungen, Bindungen und Aufträgen, die unbewusst Kindern aufgeladen werden. Dass Jesus auch von solchen Verstrickungen frei macht, ist kein frommer Spruch, sondern handfest zu erlebendes Geschenk: Dass ich frei mein Leben leben darf.

Bindungen können gelöst, Delegationen verabschiedet werden. Ich bin nicht für das Glück des Anderen verantwortlich, weder für das meiner Eltern noch für das meiner Kinder. Ich bin nicht der Lebenssinn meines Partners. Sie glauben nicht, in wie vielen Paarbeziehungen solche unerfüllbaren Forderungen zu Missverständnissen und Konflikten und letztlich zum Scheitern führen.

Viel anderes fasziniert mich an Jesus. Zwei Stichworte dazu.

1. Der Ruf

Wir haben in unserem Leben den Ruf in die Nachfolge gehört. Wir haben den Ruf gehört, den eigenen Ehrgeiz, die eigenen Pläne, die eigenen Hoffnungen und Träume, die eigenen Grenzen und Defekte, Sehnsüchte und Ängste am merkwürdigsten Ort der Welt abzugeben: am Kreuz.

Wir haben uns entschieden, als Menschen durch die Welt zu gehen, die den Himmel geschmeckt haben und die Erde und ihre Menschen lieben, weil wir dem folgen wollen, der den Himmel im Blut und die Erde in den Knochen hat: Jesus Christus.

Dafür nehmen wir in Kauf, als Sonderlinge zu gelten, als Exoten; und wir nehmen in Kauf, uns nie mehr ganz in der Welt zuhause zu fühlen. Der Ausserirdische E.T. ist unser Freund, denn wie er lieben wir es, mit unserem Vater zu telefonieren, der unsere Wohnung im Himmel schon bereitgestellt hat.

Wir verzichten darauf, das Vorläufige für das Endgültige zu halten, das Zelt für die Wohnung. Wir betrachten unsere Leistungen mit Skepsis, weil wir nie wissen, wie Gott beurteilt, was wir tun und lassen; es spielt nämlich keine Rolle.

Wir ahnen, dass das, was wir von uns grossartig und gut finden, möglicherweise in den Augen Gottes recht banal ist – denn es ist in der Regel auf dem Boden unserer Begabungen gewachsen. Und schliesslich sind unsere Gaben dazu da, dass wir mit ihnen wuchern. Und wir sind gewiss, dass das, wofür wir uns schämen, was uns peinlich ist – und was auch tatsächlich peinlich ist –, im Himmel kein Grund zur Zerknirschung mehr sein muss. Weil Gott es ganz anders sieht als wir. Wir brauchen das Wasser nicht mehr auf die eigenen Mühlen zu lenken.

Alles, was wir haben, ist der Ruf. Er ist nicht verhandelbar. Er gibt uns eine Würde, die uns niemand nehmen kann. Wir gehören zu den Herausgerufenen, denn ekklesia – «Kirche» – heisst nichts Anderes. Wir gehören zu einer Elite, die sich nicht durch Sportlichkeit, Macht, Geld und Bildung auszeichnet, sondern durch ihre Bedürftigkeit.

Wir haben begriffen, dass uns etwas fehlt. Dass wir ohne die Hilfe Gottes und seines Geistes eindimensionale Menschen bleiben. Dafür belächeln uns die Starken, die ohne fremde Hilfe durchs Leben gehen, die Erfolgsmenschen. Oder diejenigen, die sagen, Gott sei für die Schwachen da.

Wie recht sie haben. Wir sind Desillusionierte, Ernüchterte, weil aller schöne Schein uns nicht täuscht. Wir können zulassen, was schief ist, anerkennen, was misslingt, weil unser Leben nicht mehr daran hängt, dass etwas gelingt oder schön aussieht.

2. Auferstehung

Mich fasziniert, dass Jesus die Antwort auf die unerträglichen Widersprüche im Leben ist. Zum Beispiel darauf, dass mit dem Tod blühendes Leben und über Jahre angehäufte Kompetenz vernichtet wird. Welche Verschwendung.

Jesus ist die Antwort auf das Leid in meinem eigenen Leben. Ich muss die Antwort nicht immer verstehen. Wenn sie mich nicht mehr trägt, heisst das nicht, dass ich zuwenig oder falsch glaube oder ein Zweifler bin. Denn jetzt sind Andere da, die mich durchtragen, wo mich die Antwort nicht mehr trägt. Das ist das Geheimnis der Gemeinschaft, die Jesus stiftet.

Natürlich kann ich die Nachricht, dass der Tod besiegt ist und das Böse bezwungen ist, als faule Ausrede brauchen, mich nicht einzusetzen. Ich kann erklären, dass das Böse der Welt noch heftige Rückzugsgefechte liefert, aber definitiv besiegt ist – und dann die Hände in den Schoss legen und die Welt ihrem Schicksal überlassen. Aber das wäre zynisch.

Dann hätte ich etwas Grundsätzliches nicht begriffen: Dass Jesus den Tod besiegt hat, ist keine Schlafpille, sondern der heftigste Muntermacher, den es gibt. Dagegen wirken Fisherman’s friends und Red Bull wie Schlaftabletten. Denn die Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten verlieren ihre lähmende Wirkung, die sie unweigerlich bei all denen entfalten, die sich noch einen Rest von Sensibilität bewahrt haben. Irgendwie bringt Jesus zusammen, was nicht aufgeht. Das fasziniert mich, auch wenn ich es nicht verstehe.

Niemand versteht die Auferstehung. Darum rationalisieren die meisten sie so gerne weg, allen voran die Theologen. Die Nachricht von der Auferstehung befreit mich von der Sorge, was später kommt. Sie befreit mich von der Angst, das Leben zu verpassen. Sie lädt mich ein, mich mit gelungenen Halbheiten zufrieden zu geben und dem Totalitätszwang unserer Zeit eine lange Nase zu drehen.

Unser Leben muss nicht super gut, unsere Beziehungen nicht total harmonisch, die VBG nicht voll effizient sein; es reicht, es halb gut zu machen, weil das Vollkommene das Attribut des Himmels ist. Wir müssen nicht den Himmel auf Erden schaffen, denn das Leben ist vorläufig. Die Auferstehung befreit mich zur Gelassenheit gerade da, wo die Dringlichkeit mich bewegt.

Manchmal, liebe Brüder und Schwestern, kommt Sehnsucht auf. Die Sehnsucht, endlich das Ganze zu sehen. Die Sehnsucht, dass das Leid ein Ende hat, das jedes Leben berührt.

Manchmal ist der Sehnsuchtsruf «Maranatha!» mein täglicher Begleiter. Wenn zu viel nicht aufgeht, zu viel Leid mir den Atem nimmt.

Wenn die Zweifel kommen, trägt das Zeugnis der Brüder und Schwestern. Nicht weil sie Glaubenshelden, nicht weil sie stark sind und ich schwach, sondern weil ihre eigene Geschichte sie durchscheinend gemacht hat für Gott.

Ich wünsche euch und mir und der VBG, dass wir an Transparenz gewinnen. Dass das Licht der Auferstehung durch uns hindurch in die Welt scheint.