Weltanschauung: Gibt es eine neutrale Sichtweise?

Auf der einen Seite die exakte Wissenschaft, auf der anderen die spekulative Religion – so wird die Auseinandersetzung zwischen Denken und Glauben gemeinhin wahrgenommen. Dieser Ansicht widerspricht aber die Erkenntnis, dass alle Menschen im Grunde nach einer Reihe vorgefasster Paradigmen leben, seien sie nun Atheisten, Christen oder Agnostiker. Folglich geht es in den Auseinandersetzungen weder um Spekulation noch um exakte Forschung, sondern um ein Verhandeln unterschiedlicher Weltanschauungen. Damit befinden sich die Akteure der Diskussion auf Augenhöhe, und es wird möglich, eine fruchtbare Diskussion zu führen.

Seit der Aufklärung geistert die Idee durch unsere Gesellschaft, dass es möglich sei, Weltanschauungen zu vertreten, die rein vernunftorientiert und deshalb losgelöst von jedem Glauben sind. Jeder Mensch gestaltet aber sein Leben bei näherem Hinsehen aufgrund von letztgültigen Werten – und damit mit einem religiösen Ansatz.

Wir alle leben gemäss einer Weltanschauung

Nach Aristoteles streben alle Menschen nach Glückseligkeit. Als geglückt oder gelungen erscheint uns das Leben aber nur dann, wenn es unseren Erwartungen von dem entspricht, was Glückseligkeit bedeutet. Diesen Erwartungen geht aber schon eine gewisse Sicht der Dinge voraus. Wenn wir unser Leben in einer Welt mit anderen Menschen zum Gelingen bringen wollen, müssen wir uns darauf einstellen, wie die Welt funktioniert. Wir müssen uns eine Vorstellung von der Welt machen oder eine solche übernehmen.

Ich kann aber nie ganz sicher sein, ob eine Lebensvorstellung auch zur Glückseligkeit oder einem gelingenden Leben führen wird. Ich muss „glauben“, dass mein Leben unter dieser Vorgabe gelingt. Die Auswahl der Lebenssicht ist immer Glaubenssache. Mein Glaube hat aber erhebliche Konsequenzen – denn wie ich glaube, so lebe ich. Meine Freiheit und damit meine Entscheidungen hängen von meinem Glauben ab, denn der bestimmt, wie ich die Welt sehe und gibt damit den Rahmen vor, in dem ich meine Entscheidungen treffe.

Bei den Grundannahmen einer Weltanschauung handelt es sich um Glaubensfragen. Sie können letztlich nicht mehr bewiesen, sondern nur noch bezeugt werden. Da jede Weltanschauung aus vorwissenschaftlichen Annahmen besteht – also einen bestimmten Glauben darstellt –, ergeben sich einige Schlussfolgerungen: Wenn sich zwei Weltanschauungen widersprechen, stehen streng genommen immer Glaube eins gegen Glaube zwei zur Diskussion und nicht etwa Glaube gegenüber Wissen. Diese Tatsache führt auch dazu, dass wir eingestehen müssen, keine übergeordnete Position des „völligen Wissens“ zu besitzen, die es uns erlauben würde, andere Weltanschauungen letztgültig beurteilen zu können. Daher kann man in einem Diskurs höchstens die sich aus einer Weltanschauung ergebenden Konsequenzen benennen und mit jenen vergleichen, welche aus einer anderen Weltanschauung abgeleitet worden sind. Wichtig ist dabei, dass auch wir als Christen keine „Gottesposition“ besitzen, von der her alle Weltanschauungen abschliessend beurteilt werden könnten. Unsere Erkenntnis ist Stückwerk. Auch wenn wir zutiefst von unserer Weltsicht überzeugt sind, erfordern weltanschauliche Diskussionen ein gewisses Mass an Demut.

In einer bestimmten Kultur bilden die weltanschaulichen Prämissen so etwas wie die Regeln eines Spieles. Das Spiel selber ist eine direkte Folge der zugrunde liegenden Regeln. Herrschende Weltanschauungen beeinflussen daher alle kulturellen Äusserungen einer Gesellschaft. Wenn wir Zeitung lesen, einen Film sehen oder ein Seminar besuchen, dann werden uns direkt oder indirekt Werte und Anschauungen vermittelt. Minderheiten reagieren oft mit Rückzug auf die in einer Kultur vorherrschende Weltanschauung. Gerade Christen fallen diesem Phänomen schnell zum Opfer. Die Rückzugsstrategie („Cocooning“ – Rückzug in den Kokon) soll die unliebsamen Kontakte und Reibungen mit der abgelehnten Weltanschauung minimieren. Genauso unproduktiv ist die Zweiteilung einer Weltanschauung: Im Aussenkontakt gleicht man sich der Umgebungsmeinung an, im Privatraum jedoch hält man die eigenen Ansichten hoch.

Forderungen an eine zufriedenstellende Weltanschauung

Bei Diskussionen mit Andersdenkenden kann es hilfreich sein, die jeweilige Weltanschauung nach bestimmten Kriterien zu bewerten. So sollte eine zufriedenstellende Weltanschauung erklären können, weshalb die Welt zu dem wurde, was sie heute ist – und auch, wie es mit dieser Welt weitergehen wird. Zudem muss sie in verschiedenen Lebensbereichen grundlegende Antworten bereitstellen, damit Individuen und ganze Gesellschaften mit mehr oder weniger Erfolg in dieser Welt bestehen können.

Die Forderungen an eine befriedigende Weltanschauung lassen sich in drei Bereiche einordnen:

  • Sachgerecht: Eine Weltanschauung sollte die Grundlage liefern, aufgrund der eine Gesellschaft die grundlegenden biologischen Bedürfnisse (Nahrung, Wärme, Schutz) befriedigen kann.
  • Menschengerecht: Da der Mensch auch ein soziales Wesen ist, sollte die Weltanschauung zudem die Grundlagen für bedeutungsvolle soziale Beziehungen vermitteln. Versagt die Weltanschauung an diesem Punkt, kann das fatale Folgen haben (z.B. Zunahmen von Mord, Vergewaltigung, Einsamkeit etc.).
  • Gottgerecht: Menschen haben ein tiefes Verlangen, Antworten von ausserhalb ihres eigenen Intellekts zu erhalten. Alle Kulturen haben ihre religiösen Vorstellungen und Antworten, welche auf dieses spirituelle Bedürfnis eingehen. Eine befriedigende Weltanschauung sollte auch Antworten auf metaphysische Fragen liefern können.

Erfüllt eine Weltanschauung diese drei Grundansprüche, kann man einen Schritt weitergehen. Fünf Testfragen können zeigen, ob eine bestimmte Weltsicht auch brauchbar ist:

  • Vermittelt sie Hoffnung?
    Eine befriedigende Weltanschauung sollte in einer Krise (z.B. Tod eines geliebten Menschen) neue psychologische Kraft vermitteln.
  • Kennt sie Gut und Böse?
    Eine Weltanschauung muss Handlungen und Institutionen bewerten können und Antworten auf die Fragen nach dem Leiden geben.
  • Kann sie Neues einordnen?
    Eine Weltanschauung muss sinnvolle Antworten auf neue Fragen vermitteln können. Sie sollte die Eleganz der Einfachheit besitzen, um in ganz verschiedenen Kulturen heimisch zu werden.
  • Deckt sie sich mit der Realität?
    Eine Weltanschauung muss mit der vorgefundenen Wirklichkeit übereinstimmen und sie soweit erklären, dass eine gewisse Ordnung erkennbar und damit eine Vorhersagbarkeit auch in alltäglichen Dingen möglich wird.
  • Ist sie kohärent?
    Im Allgemeinen fühlt sich der Mensch unbefriedigt, wenn eine Erklärung unstimmig oder in sich widersprüchlich ist. Eine Weltanschauung sollte daher möglichst widerspruchsfrei sein.

Natürlich können all diese Kriterien in Frage gestellt werden. Da sie aber versuchen, auf vernünftige Weise eine möglichst realitätsnahe, schlüssige und kompatible Weltanschauung zu ergründen, können sie ein hilfreicher Leitfaden sein.

Woher kommen Weltanschauungen?

Weltanschauliche Prämissen werden normalerweise in einem unbewussten Prozess durch die Kernfamilie und die umgebende Kultur vermittelt. Man kann daher die Weltanschauung mit einer gefärbten Brille vergleichen, durch die wir die ganze Wirklichkeit betrachten, deren Vorhandensein wir aber meist nicht bewusst wahrnehmen.

Treten Erfahrungen auf, die wir mit der hergebrachten Weltanschauung nicht mehr erklären können, dann werden wir vermutlich unsere Weltanschauung zu hinterfragen beginnen. Übersteigt die Menge dieser offenen Fragen ein bestimmtes Mass, dann wird unsere ganze Weltanschauung als solche in Frage gestellt und wir müssen uns aufmachen, selber nach einer angemessenen Weltanschauung zu suchen. Solche Prozesse führen im Idealfall dazu, dass ein Individuum sich zunehmend seiner Weltanschauung bewusst wird oder sich eine neue Sicht aneignet, die dann den Vorteil aufweist, durchdachter zu sein. Und durchdachte Positionen sind im Allgemeinen klarer artikulierbar, vermitteln eine grössere Sicherheit und sind generell überzeugender. Das sollten sich auch Christen zu Herzen nehmen!


Weltanschaung und Religion

In seinem Buch „The Myth of Religious Neutrality“ (Der Mythos religiöser Neutralität) zeigt der Philosoph Roy A. Clouser, dass die Bildung von Theorien gezwungenermassen von weltanschaulichen Glaubensvorstellung beeinflusst wird. Er sagt, dass es keine weltanschaulich oder religiös neutralen Theorien gibt und dass, wer an eine Theorie glaubt, immer auch religiöse Vorstellungen hat.
 Doch wie definiert man „religiöse Vorstellungen“? Clouser geht verschiedenen Definitionsversuchen nach und kommt zu folgendem Schluss: Alle Religionen scheinen sich um etwas zu gruppieren, das wir als göttlich bezeichnen können. Sie unterscheiden sich aber sehr in dem, was man darunter zu verstehen hat. Er unterscheidet also zwischen einem göttlichen Status und dem, was oder wer diesen Status inne hat.

Das Göttliche ist das, von dem alles andere abhängt, das aber selber nicht von irgend etwas anderem abhängig ist. Es existiert aus sich selber. Wenn man definiert, dass jemand, der religiös ist, an einen Retter glaubt und etwas anbetet, dann gibt es viele, die nicht religiös sind. Wenn man aber sagt, dass das Wesentliche einer religiösen Vorstellung der Glaube an etwas ist (wer oder was auch immer es ist), das unabhängig existiert und von dem alles andere abhängt, dann sind alle Menschen religiös. Somit kann man sagen, dass alle Weltanschauungen einen religiösen Kern besitzen.

Damit können wir zusammenfassend wie folgt definieren:
 Alle Religionen haben den Glauben gemeinsam, dass das Göttliche, was immer es auch ist, einfach existiert, und dass das Nichtgöttliche vom Göttlichen abhängig ist, das heisst, dass das Göttliche ohne Nichtgöttliches existieren kann, aber nicht umgekehrt.
 Das Göttliche kann eines oder eine Vielzahl sein, es muss auch nicht gut oder personal sein. Eine materialistische Weltanschauung geht davon aus, dass es nur Materie und Energie gibt. Sie bezeichnet also Materie als selbstexistent (göttlich) und alles andere als davon abhängig (nicht-göttlich). Sie ist gemäss unserer Definition also auch ein religiöser Glaube, obwohl sie die subatomaren Teilchen nicht anbetet.

Was ist Religion?

Es ist klar, dass es in jeder Religion ganz zentrale Glaubensinhalte gibt, die nicht in dieser Definition enthalten sind. Clouser bezeichnet sie als «Sekundäre Glaubensinhalte». Sie können am besten umschrieben werden mit den Inhalten, die festlegen, wie man in eine richtige Beziehung zum Göttlichen kommt, wie auch immer das Göttliche gestaltet ist.

Man kann also sagen, ein religiöser Glaube ist:

  • ein Glaube an irgend etwas Göttliches und
  • ein Glaube, der beschreibt, wie Menschen in eine rechte Beziehung zum Göttlichen gelangen.

Der zweite Glaube ist sekundär, weil er auf dem ersten beruht. 
Clouser bietet weitere hilfreiche Definitionen, in denen er Begriffe wie Glauben und Vertrauen definiert. Glauben und Vertrauen werden gebraucht, um eine Handlung zu beschreiben, die eine persönliche Beziehung zu dem bezeichnet, was geglaubt wird. Es gibt auch nicht-religiösen Glauben, bei dem wir von Vertrauen sprechen. So sagen wir z.B., dass wir der Wettervorhersage vertrauen. In diesem Beispiel handelt es sich deshalb nicht um religiösen Glauben, weil es weder um Vertrauen in etwas geht, das selbstexistent ist, noch um die Frage der rechten Beziehung zu dem, was selbstexistent ist.

Bei einem religiösen Glauben ist das Objekt des Vertrauens bedingungslos vertrauenswürdig. Nicht-religiöser Glaube beinhaltet immer die Einschränkung, dass das Objekt des Glaubens durch verschiedene Umstände beeinflusst werden kann. Nicht beeinflussbar und daher bedingungslos vertrauenswürdig kann nur etwas sein, das selbstexistent ist. Hier können unsere Gefühle sehr täuschen. Wir können uns sicher fühlen bei etwas, das eigentlich nicht uneingeschränkt vertrauenswürdig sein kann, andererseits aber gegenüber Gott, der selbstexistent ist, zweifeln.