Warum wir die Bibel aktualisieren müssen

Heute argumentieren Vertreter des Unglaubens oft sehr aggressiv. Sie sagen nicht: «Die Bibel ist nicht mehr aktuell», sondern behaupten: «Sie ist ein schädliches Buch, das man von Kindern fernhalten muss!» Wie kann man auf gute Weise auf solche Angriffe reagieren?

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In einer Debatte zwischen Christen und Atheisten äusserte sich ein Professor ganz unverhohlen. Er kritisierte ein Bibelplakat mit dem Text: «Vertraue nicht Menschen, vertraue Gott.» Das sei eine gefährliche Botschaft für schwache Menschen, denn man müsse doch auch den Menschen vertrauen.

In seinem Büchlein «Brief an ein christliches Land» schreibt der amerikanische Philosoph Sam Harris: «Die Vorstellung, dass die Bibel ein vollkommener Wegweiser zur Moral sei, ist angesichts ihrer Inhalte schon mehr als erstaunlich.»1

Er zitiert dann diverse Gesetze aus dem Alten Testament: Gotteslästerer, Ehebrecher und Homosexuelle sollten wir steinigen… Er meint weiter, heutige Christen könnten sich nicht auf Jesus berufen mit dem Argument, er habe diese Barbarei abgeschafft, denn Jesus billige das Gesetz voll und ganz. Dazu verweist er auf Matthäus 5,17: «Ich bin nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzuheben.»

Richard Dawkins wird noch polemischer: Die Bibel begründe ein «ethisches System, das jeder zivilisierte, moderne Mensch, ob religiös oder nicht, widerwärtig finden müsste – freundlicher kann ich es nicht formulieren. Doch ich will fair sein», schreibt Dawkins ironisch. «Die Bibel ist in grossen Teilen nicht systematisch böse, sondern einfach nur grotesk.»2

Tatsächlich: Man könnte geneigt sein, Gott zu fragen: «Weshalb nur hast du uns ein Buch gegeben, das jeder Rassist und jeder Fernsehprediger für sich auslegen kann; ein Buch, mit dem nicht nur Unfug sondern auch Brutalität legitimiert wird; ein Buch, in dem so vieles von unserer Auslegung abhängt und damit der Beliebigkeit preisgegeben wird?»

Ein Appell an den Verstand

Ich denke, dass Gott uns die Bibel zumutet, weil er uns mit Verstand ausgerüstet hat. Nicht nur betend, auch denkend sollen wir an die überlieferten Worte herangehen. Er mutet uns die Bibel zu, weil wir erkennen sollen, dass wir mit der Gabe der Bibel nicht Gott selber in der Hand halten. Und er mutet uns dieses Buch zu, weil wir demütig feststellen müssen, dass unsere Erkenntnis Stückwerk ist und wir bei der Aktualisierung dieser alten Worte, trotz aller theologischen Arbeit, auf das Wirken des Heiligen Geistes angewiesen sind und bleiben. Vom Textcharakter her kann man Bibelstellen zusammenstellen, welche ganz Grundsätzliches, ja «ewig Wahres» aussagen. Viele Texte enthalten jedoch historische Berichte oder Worte, die in eine bestimmte Situation hinein gesprochen wurden. Man wird der Bibel daher nicht gerecht, wenn man sie unhistorisch liest.

Wir müssen auch bedenken, dass wir oft einfach Zuhörer sind. Wenn sich ein Prophet an das Volk Israel wendet oder Paulus an eine bestimmte Gemeinde schreibt, dann hören wir eben die biblische Botschaft an Israel oder an eine bestimmte Gemeinde. Soll dieser Text auch auf unsere Situation anwendbar sein, dann muss er aktualisiert werden. Wir hören zum Beispiel, dass Jesus in Kana Wasser in Wein verwandelt hat. Ohne Aktualisierung würde eine Predigt zu diesem Text zur blossen Nacherzählung – oder zur Aufforderung, ebenfalls Wasser in Wein zu verwandeln.

Aktuell, wenn aktualisiert

Die Christenheit geht seit ihren Anfängen einhellig davon aus, dass der Heilige Geist die biblischen Texte aktualisieren kann und will. Schon Jesus aktualisierte das Gesetz. In Matthäus 5 sagt Jesus nicht nur: «Ich bin nicht gekommen, um ausser Kraft zu setzen, sondern um zu erfüllen.» Er zeigt auch, was dieses «Erfüllen» bedeutet.

Zweimal (Matthäus 5,21-22 und 5,27-28) betont er: «Ihr habt gehört … ich aber sage euch.» Für jeden Zuhörer war damals klar, was da geschah: Ein Rabbi legt das Gesetz aus und aktualisiert es. «Erfüllen» bedeutete für Jesus, den Buchstaben des Gesetzes so zu aktualisieren, dass Gottes ursprüngliche Absicht wieder hervorscheint: Der Mensch ist nicht für die Gebote da; die Gebote dienen dem Leben – wie z.B. der Sabbat.

Sam Harris versteht Jesus schlichtweg falsch. Es wäre aber ein Missverständnis zu meinen, dass der Heilige Geist, wann immer wir die Bibel öffnen, zu uns sprechen müsse.

Die Bibel ist kein Automat, der beim Öffnen Gottes Stimme ausspuckt. Wir merken auch schnell einmal, dass der Heilige Geist uns beim Aktualisieren der biblischen Texte nicht zu einheitlichen Auslegungen führt. Auch wer die Ansicht vertritt, der biblische Text sei von Gott Wort für Wort eingegeben, läuft Gefahr, dass seine Aktualisierung nicht die Absichten Gottes widerspiegelt, sondern seine theologischen Vorlieben. Dennoch können wir uns, bei aller Unsicherheit, den Prozess der Aktualisierung oder Auslegung nicht ersparen.

Last but not least: Wenn wir das von Gott Gehörte nicht umsetzen, versickert auch die klarste Aktualisierung durch den Heiligen Geist auf halbem Wege. Erst wenn uns der Geist durch die Worte der Bibel zur Praxis führt, können wir auf die Frage, ob die Bibel aktuell sei, mit einem Ja antworten.

Leitlinien zur Aktualisierung der Bibel

Mein Motiv – die zentrale Frage

Weshalb studiere ich die Bibel? Suche ich den lebendigen Gott, der «nirgendwo kräftiger als in der Heiligen Schrift» redet (Luther), oder suche ich eine Bestätigung meiner theologischen Vorurteile oder meines Bibelverständnisses?

Ich setze daher mein Vertrauen nicht auf die Bibel, sondern auf Gott selber und auf seine Bereitschaft, durch die Bibel zu mir zu sprechen – zumindest dann und wann, wenn ich hörbereit bin.

Diese Haltung unterscheidet uns von fundamentalistischen Kreisen oder vom Umgang der Muslime mit dem Koran. Gerade der fundamentalistische Bibelzugang liefert die Folie, mit der die «neuen Atheisten» wie Harris und Dawkins die Bibel kritisieren.

Gottes Offenbarung hat ein Zentrum: Jesus Christus

«Christus ist der Herr!» – Herr auch der Bibel.

Jesus und die Bibel müssen unterschieden werden: Beide sind «Gottes Wort», haben aber nicht die gleiche Autorität. Nicht durch die Bibel ist die Welt entstanden, sondern «durch ihn (Jesus) ist alles erschaffen» (Johannes 1,3). Und niemand kann uns Gott besser vorstellen, als «der eingeborene Sohn, der an der Brust des Vaters ruht» (Johannes 1,18).

Ich frage daher bei jedem Text: Was hätte Jesus dazu gesagt? Mit dieser Frage entscheide ich, dass kein biblischer Text an Jesus vorbei Autorität über mich gewinnen darf.

Ich weiss mich daher in der Nachfolge Jesu, wenn ich die (alttestamentliche) Aufforderung ignoriere, Gotteslästerer zu steinigen. Damit mein Verständnis von Jesus und seiner Offenbarung von Gott in mir wachsen können, lese ich die Bibel – bevorzugt die Evangelien.

Die zentrale Absicht der Bibel

Unsere Vorannahmen bezüglich des Grundanliegens der Bibel bestimmen, wie wir die einzelnen Teile auslegen oder aktualisieren.

Ich bin überzeugt, dass alle Teile der Bibel dem einen Ziel dienen: Sie wollen uns Gott vorstellen, indem sie uns zeigen, wie wir zu einem richtigen Verhältnis mit ihm gelangen können. Die Annahme, die Bibel sei eine Enzyklopädie, die auch auf unsere wissenschaftlichen Fragen des 21. Jahrhunderts Antworten geben müsse, scheint mir daher falsch zu sein.

Die Tradition

Weil ich nicht glaube, dass ich die einzig richtige Auslegung eines Bibeltextes kenne, befrage ich andere, wie sie ihn verstanden haben. Ich studiere Kommentare, lese in der Gemeinschaft die Bibel und frage auch, wie sich eine bestimmte Auslegetradition in der Geschichte ausgewirkt hat. Denn Jesus sagte: «An den Früchten sollt ihr sie erkennen.»

Der Verstand

Gott hat uns einen Verstand gegeben, den wir bei der Aktualisierung der Bibel nicht ausschalten dürfen.

Gewinne ich mit diesen Punkten eine absolute Sicherheit? Nein, meine Erkenntnis bleibt immer Stückwerk. Sicherheit haben wir nur in Gott.

Dennoch: «Christsein bedeutet, dass wir uns in einem niemals endenden Gespräch mit der Bibel befinden, das grundlegend für unsere Identität und Vision ist. Wenn dieses Gespräch verstummt oder planlos wird, hören wir auf, Christen zu sein, denn die Bibel gehört zum Herz des Christentums.»3