Stille ist mehr als stillsein

Tragende Antworten auf Sinnfragen und eine klare Ausrichtung auf das Wesentliche zu finden, geht nicht ohne Stille. Ruth Maria Michel über christliche Meditation, Kontemplation und Mystik.

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Um Stille zu pflegen ist es unerlässlich, ihr einen Platz im Alltag zu verschaffen. Ja, «verschaffen»: Stille fällt kaum jemandem in den Schoss. Es kostet Arbeit, sie in den Alltag zu integrieren.

Sich Zeit zu nehmen ist oft ein Kampf, jedoch ist das Üben des Stillehaltens gut investierte Zeit. Die Kraft der Stille erfährt, wer sich entscheidet, die Geschäftigkeit für eine Weile zurückzulassen. Stille verhilft mir zu mir selbst und schafft Klarheit. Wer immer wieder Stille sucht, wird ausgeglichener und präsenter – und «hörbereiter» für Eingebungen.

Stille ist beziehungsorientiert

Viele verschiedene Begriffe1 werden je nach Spiritualität und Weltanschauung unterschiedlich gefüllt. Die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam bekennen einen persönlichen Schöpfergott. Ich werde still auf der Basis eines bestimmten Welt-, Menschen- und Gottesbildes.

Als Christin bekenne und erfahre ich Gott als persönliches Gegenüber, als «Du». Er hat sich in Jesus Christus ein für allemal offenbart als Immanuel – «Gott mit mir». Als sein Geschöpf bin ich nicht ein Zufallsprodukt, sondern kenne meinen Ursprung: «Da hauchte Gott dem Menschen seinen Atem ein … und er wurde ein lebendiges Wesen» (Genesis 2,7).

Gott ist der tragende Grund meiner Gegenwart, ob ich dies spüre oder nicht: «Die Menschen sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. Wir sind von seiner Art» (Apostelgeschichte 17,27f).

Das Vertrauen auf ein Leben über den Tod hinaus eröffnet eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive: «Gott wird in ihrer Mitte wohnen. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal» (Offenbarung 21,3f).

So ist Stille im christlichen Sinne implizit beziehungsorientierte Stille. Es geht um die Begegnung mit Gott, so wie er sich in der Bibel und in Jesus Christus offenbart. Diese Begegnung kann ich nicht «machen»; sie ist und bleibt unverfügbar – ein Geschenk. In Stille, Meditation und Kontemplation kann ich mein «menschliches Gefäss» für diese Begegnung disponieren, bereit machen; die Begegnung selbst kann jedoch nie herbeimanipuliert oder erzwungen werden.

Christliche und östliche Meditation

Östlich geprägte Weltanschauungen wie etwa der Buddhismus kennen keinen personalen Gott. Es ist die Rede vom «göttlichen Geheimnis» oder vom «Aufgehen im Nichts». «Leere» ist ein Ziel.

Die Form östlicher Stille- und Meditationsübungen ist der christlichen sehr ähnlich, die (weltanschauliche) Basis und Ausrichtung jedoch unterschiedlich. Den spezifischen Unterschied zwischen christlicher Meditation und buddhistischer Zen-Meditation arbeitet Walter Gasser in seinem VBG-Manuskript «Wesen und Praxis christlicher Kontemplation» heraus.

Gemäss der Bibel ist der Mensch «einerseits erlösungsbedürftig, andererseits nicht zur Selbsterlösung fähig. Der Buddhismus dagegen geht grundsätzlich davon aus, dass der Mensch aus eigener Kraft ins Nirwana eingehen kann, das heisst, dass er sehr wohl zur Selbsterlösung befähigt ist.»2

Unter Intellektuellen und in vielen Medien wird oft der vermeintlich «gute Buddhismus», der Freiheit und Selbstbestimmung schenkt, dem scheinbar «bösen Christentum» mit seinem strafenden Richtergott, der Menschen unfrei lässt und verängstigt, gegenübergestellt. Christian Ruch fragt: «Macht der Buddhismus mit seinem unerbittlichen Gesetz des Karmas, das mich selbst noch für die Fehler vergangener Leben büssen lässt, wirklich so frei? Und ist der Gott der christlichen Kirchen wirklich ein strafender Richtergott? Ist er nicht eher ein Gott, der durch das Werk seines Sohnes Jesus Christus die Menschen befreit?»3

Wir können beklagen, dass viele Menschen sich eher dem Buddhismus zuwenden als dem Christentum. Sie scheinen dort Kraft für den Alltag und Antwort auf ihre Fragen zu finden. Wir können das Jahr der Stille aber auch zum Anlass nehmen, bei den reichen biblischen und kirchengeschichtlichen Kraftquellen anzudocken.

Stille, die sich aus der christlichen Tradition speist, ist nicht leer. Konkrete, praktische Wege, die in die Stille begleiten, sind Meditation und Kontemplation.

In der Mitte verweilen

Meditieren wird beschrieben als «nachsinnen», «vertiefen», «sich versenken», «verweilen». Oder wie es von Maria heisst: «Sie bewahrte es in ihrem Herzen» (Lukas 2,51); sie bewegte es in ihrem Herzen hin und her. Martin Luther umschreibt: «Meditieren ist gleichsam in der Mitte verweilen oder von der Mitte und dem Innersten bewegt werden.»

Meditieren ist für mich eine Übung, um das, was mir begegnet (z.B. ein Wort aus der Bibel, ein Lied, ein Gebet, ein Symbol, etwas aus der Schöpfung, eine Begegnung usw.), mit meinem ganzen Sein wahrzunehmen und in die Mitte meines Wesens einzulasssen.

Mich «einsammeln» aus der Zerstreuung des Alltags und «gesammelt» werden. Das hilft mir, wesentlicher zu leben4 und zu merken, wer ich eigentlich bin. Wesentlich bin ich eingeladen, ein Kind Gottes zu werden (Johannes 1,12).

Meditation hilft zu erfahren, dass Gott ein grosser «Menschenfreund» ist. Eine Spruchkarte beschreibt einen Freund als «jemand, der die Melodie deines Herzens kennt und sie dir vorsingt, wenn du sie vergessen hast». Die christliche Melodie des Herzens heisst: «Du bist eine Geliebte Gottes. Immer. Ob du dich gut fühlst oder nicht. Ob du viel leisten kannst oder wenig vermagst.»

Meditation will helfen, dass mein Herz immer tiefer glauben kann, was mein Kopf weiss: «Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist» (Römer 5,5). «Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm» (1. Johannes 4,16).

Christliche Meditation will mich einladen, alles aus meinem Leben mit Gott in Verbindung zu bringen. Jesus Christus trägt den Namen Immanuel – «Gott mit mir» (Matthäus 1,23). Christliche Meditation kommt um Jesus Christus nicht herum. Tiefstes Ziel christlicher Meditation ist nicht «nur» Achtsamkeit und innere Leere, sondern die Begegnung mit dem «Du» Gottes, das mir in Jesus Christus ganz nahe kommt.

So will christliche Meditation hinführen zu einem bewussteren Leben mit Jesus Christus. Ich stelle mein Leben ein «auf die Wellenlänge Gottes». So werde ich immer aufnahmebereiter für das, was seinem Willen entspricht (weil «Gehorsam» bedeutet, zu tun, was ich «erhorcht» habe).

Ich lasse mich ein auf den Gott der Liebe, der sich in Jesus Christus offenbart, lerne ihn tiefer kennen, bis etwas zu einem Teil meines Wesens geworden ist. Was ich liebend anschaue, dem werde ich mehr und mehr ähnlich; nicht durch Willensakte, sondern durch einen Wachstumsprozess von innen her: «Was wir im Auge haben, das prägt uns, und wir kommen, wohin wir schauen».5

Liebe lässt sich nicht beherrschen

Jeder, der sich wirklich auf die Liebe im weitesten Sinn eingelassen hat, wird irgendwann merken, dass Liebe sich nicht beherrschen lässt. Liebe ist etwas, worauf man sich einlässt, mit dem man lebt und umgeht. Die Liebe ist sozusagen nicht «etwas», sondern «jemand». Das will eine der ersten Selbstoffenbarungen Gottes zum Ausdruck bringen: «Ich bin der ich bin»6, der «Seiende», der «Da-Seiende».

Mit diesem Jemand gehe ich um, mit ihm lebe ich, auf ihn höre ich. Dieser Jemand ist kein «er» oder «sie», sondern immer nur «Du». In der Meditation öffne ich die «Empfangsanlage» in meinem Herzen, die Signale auffangen kann. Meditieren hilft, die Antenne unseres Empfängers besser zu richten und feiner abzustimmen.

Meditation kann man nicht theoretisch lernen, nur sich einlassen und üben.

Wichtige Begriffe

Der Begriff «Kontemplation» ist vieldeutig. Im Wesentlichen werden drei Bereiche unterschieden: Allgemein menschliche Kontemplation, christliche Kontemplation und Kontemplation im Kontext nichtchristlicher Religionen.

  • Die allgemein menschliche Kontemplation ist eine bestimmte Lebenshaltung: Man übt sich, immer wieder einfach da zu sein, absichtsslos, zwecklos. Die Wirklichkeit wahrnehmen. Loslassen und kommen lassen, offen sein.
  • Christliche Kontemplation ist ein Beziehungsgeschehen: «Schweig dem Herrn und halt ihm still, dass er wirke, was er will.»7 Es ist wortarmes, ja wortloses Dasein vor, bei, mit und in Gott.

Mystik leitet sich ab vom griechischen Wort myo «ich schliesse die Augen» und dem davon abgeleiteten Eigenschaftswort mystikos «eingeweiht». Es ist verwandt mit dem Wort mysterion «Geheimnis, Mysterium».

Viele Menschen verbinden mit dem Wort «Mystik» Vorstellungen von nebulöser Verschwommenheit, dunkler Unklarheit und Geheimniskrämerei. Mystik ist – vom religionswissenschaftlichen Begriff her – in einer Welt der Differenzen eine beseeligende Einheitserfahrung mit dem Göttlichen: «Ich in Gott und Gott in mir».

Kennzeichnend sind die Erfahrung von Einheit im Hier und Jetzt und der im letzten unaussagbare Charakter dieser Erfahrung.

Es ist die Erfahrung des Aufgehobenseins «in Gott»: «Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir» (Galater 2,20). Wobei Transzendenz und Immanenz, also «Gott über uns» und «Gott mit und in uns» im christlichen Glauben eine spannungsvolle Einheit bilden, die Einheit der dreieinigen Liebe Gottes zu uns.8