Karfreitag mit Nietzsche
«Was fehlt, wenn Gott fehlt?», fragt die reformierte Kirche in ihrem Schreibwettbewerb zum Reformationsjubiläum. Meine Antwort ist: Alles. Dieses «Alles» ist aber zu gross und damit zu platt, um das Ausmass alles Fehlenden auch nur ansatzweise erahnen zu lassen. Erst ein Blick auf Teilbereiche des «Alles» kann beleuchten, was fehlt, wenn Gott fehlt. Zum Beispiel die Art und Weise, wie Christinnen und Christen in einer säkularen Gesellschaft ihre Botschaft kommunizieren.
Wenn Gott fehlt, dann wird nur noch gehört, wer am lautesten schreit, nur noch beachtet, wer die ausgeklügeltste Marketingstrategie hat. Das schwarze Brett der Uni ist eine treffende Metapher für die Kommunikationsweise unserer Zeit: Ein Gerangel um Aufmerksamkeit, in dem jedes Mittel recht ist. «Alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde», schreibt Friedrich Nietzsche 1888 in einem seiner Fragmente. Der Machtkampf am schwarzen Brett kommt nicht von ungefähr. «Nietzsches Denken holt uns jetzt, 100 Jahre nach seinem Tod, vollends ein», schreibt Günter Rohrmoser in seinem Buch «Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart». «Wir treten nun im 21. Jahrhundert in das eigentliche Zeitalter Nietzsches ein.»
Auch an der Christenheit geht dieses Zeitalter nicht spurlos vorbei. Nietzsches «Wille zur Macht» ist an unterschiedlichsten Stellen spürbar – auch in der VBG. Er zeigt sich dort, wo wir gross sein möchten, besser als «die anderen», einflussreicher, sichtbarer. Er kann sich einnisten in unserer Sehnsucht nach erfolgreichen Veranstaltungen, bei denen uns die Türen eingerannt werden, in unserem Wunsch nach einer unüberhörbaren gesellschaftlichen Stimme. All das sind nicht per se schlechte Dinge. Doch kommen sie aus dem falschen Geist, so sind sie verheerend.
Das Zeitalter Nietzsches
Die Versuchung der Macht ist deshalb so stark, weil sie unserem Hochmut schmeichelt: «Der Hochmut freut sich nicht an dem, was er hat, sondern daran, dass er mehr hat als ein anderer… Hochmut erwächst aus dem Vergleich mit anderen; er ist das Vergnügen, anderen überlegen zu sein… Immer wenn wir das Gefühl haben, unsere Frömmigkeit mache uns zu guten, nein, zu besseren Menschen als die anderen, so können wir sicher sein, dass dahinter nicht Gott, sondern der Teufel steckt», schreibt C.S. Lewis in «Pardon, ich bin Christ».
Worin liegt der Unterschied zwischen einem von Christus geprägten gesellschaftlichen Engagement und der Forderung, dass «Christen ihre Interessen in der Gesellschaft stärker durchsetzen» sollten? Die Frage ist entscheidend, wenn wir uns sicher auf dem beängstigend schmalen Grat bewegen wollen, auf dessen einer Seite die Bedeutungslosigkeit liegt und auf der anderen das Rückzugsgefecht der einstigen Machtbastion «Christentum». Wenn Gott fehlt, bleibt nur Kampf – oder Untergang.
«Wir Mörder aller Mörder»
Und so gelangen wir – es ist schliesslich Fastenzeit – zu Karfreitag: Mit der Erkenntnis, dass es nicht «die anderen» sind, sondern wir selbst, wir frommen Menschen mit unserem Geltungsbedürfnis und unserem Wunsch nach einfachen, schmerzlosen Lösungen, die dem Zeitalter Nietzsches den Weg bereitet haben. Mit welchen Akteuren der Passionsgeschichte identifizieren wir uns? Die Frage legt unser geheimes Selbstverständnis offen. Und paradoxerweise ist es Nietzsche selbst, der uns in seiner Parabel vom «tollen Menschen» die richtige Rolle zuweist: «Wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab?»
Die christliche Botschaft ist nur dann Evangelium, wenn sie zuerst «nach unten» und erst dann «nach oben» führt. Es kann nur auferstehen, wer zuerst stirbt. Gott fehlt nicht. Und weil Gott nicht fehlt, ist der Heilandsruf Jesu ernst gemeint (Matthäus 11,28-29): «Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig.» Wer Busse tut und umkehrt, wird das Leben finden. Gott selber, der nicht fehlt, ist der Garant dafür.
C’est le ton qui fait la musique, sagt der Volksmund. Wir befinden uns in einem Zeitalter konkurrenzierender Weltanschauungen – und es ist schwierig, auf dem Markt der Religionen nicht zum Marktschreier zu werden. Für die VBG bedeutet der «Weg nach unten» ein Ja zur oft unsichtbaren Knochenarbeit: Zum beharrlichen Investieren in Beziehungen und zu einer geistlichen Sicht auf das scheinbar Kleine, das in Gottes Augen vielleicht weltbewegend ist. In unseren Gebetszeiten können wir es zur guten Gewohnheit machen, andere Menschen segnend vor Gott zu bringen – insbesondere jene, die uns nicht wohlwollend gesinnt sind – und uns bemühen, wertschätzend von ihnen zu sprechen. Dabei kann das Stossgebet aus Psalm 141 helfen: «Herr, stelle eine Wache vor meinen Mund!» Denn tatsächlich ist die Art und Weise, wie wir über andere denken und sprechen, ein sehr gutes Indiz für den Hochmut in unseren Herzen, wie C.S. Lewis weiter ausführt: «Je mehr wir uns darin verstricken, umso mehr verdammen wir ihn bei anderen.»
In allem dürfen wir nicht vergessen, dass der Lärmpegel auf dem gesellschaftlichen Marktplatz nicht nur problematisch ist, wenn es um die Wahrnehmung unserer Botschaft geht. Die Geräuschkulisse bedroht auch die Botschaft selbst, wie der dänische Philosoph Kierkegaard unübertroffen diagnostizierte: «Gottes Wort kann ja nicht gehört werden, und wenn es mit Hilfe lärmender Mittel geräuschvoll hinausgerufen wird, damit man es auch im Getöse hören kann, so bleibt es nicht Gottes Wort.»
Das Raunen Gottes
Ich wünschte mir, dass die Absenz von Lärm zu einem Kennzeichen der VBG wird. Nicht nur und nicht ausschliesslich – aber doch so, dass in jedem Gruppentreffen, in jeder Moscia-Woche, bei jeder Planungssitzung etwas von dieser Stille gehört werden kann, in der Gottes Stimme erst wahrnehmbar wird: Sei es durch Stille-Übungen und Exerzitien oder Formen des gemeinsamen Bibellesens, die Raum lassen für Gottes Flüstern. Denn es ist tatsächlich so, wie Theologe Paul Schütz konstatiert: «Die Stimme ist aber leise. Um sie zu vernehmen, muss man hinhorchen. Und diese Stimme muss unbedingt eine andere und nicht die eigene sein. Es ist besser gar keine Stimme zu hören, als die eigene Stimme für die andere zu halten. Denn die leise Stimme muss uns etwas sagen, was wir uns selbst nicht sagen können.» Wenn Gott fehlt, fehlt auch seine Stimme. Aber Gott fehlt nicht. Und von seinem Raunen leben wir.
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