Über Freude und Vernunft – und warum Wahrheit nicht das gleiche ist wie Gewissheit

Die «Postmoderne» ist nicht ein Zeitalter, sondern eine bestimmte Gruppe von Autoren, die eigentümliche Dinge schreiben: «Es ist sinnlos, im Namen der Vernunft, der Wahrheit oder des Wissens zu sprechen», «Vernunft ist die äusserste Sprache des Wahnsinns» (Michel Foucault, 1926–1984). «Vernunft und Macht sind ein und dasselbe» (Jean-François Lyotard, 1924–1998). «Wahrheit ist nicht dort draussen», «we should drop the topic» (Richard Rorty (1931–2007). Die drei zitierten Männer – als weiterer Vertreter wäre Jacques Derrida (1930–2004) zu nennen – machen diese Aussagen nicht aufgrund empirischer Untersuchungen. Der «Postmodernismus» ist nicht eine Analyse des Denkens einiger oder aller Menschen heute. Er ist eine Zielvorgabe. Die genannten Autoren wollen die Menschen dazu bringen, in einer bestimmten Weise zu denken. Sie wollen die Menschen von der Wahrheitssuche abbringen.

Aussagen über «das Denken» einer bestimmten Epoche sind sowieso zweifelhaft, denn obwohl es Moden und vorherrschende Meinungen gibt, gibt es immer auch ganz entgegengesetzte Meinungen. Wenn gesagt wird, heute seien wir in einer bestimmten Epoche und da denke man soundso, oder da könne man nur noch soundso denken, sonst sei man nicht zeitgemäss, dann ist das irrational oder manipulativ. Ein vernünftiger Mensch lässt sich von solchem Gerede nicht beeinflussen, sondern bemüht sich, unabhängig zu denken und selbst nach Wahrheit zu suchen. Man kann sich gegen eine Mode entscheiden und anders denken.

Die Aussage der Postmodernisten «Es ist sinnlos, von Wahrheit zu sprechen» ist natürlich falsch. Das Wort «Wahrheit» ist ein einwandfrei funktionierendes Wort der deutschen Sprache. Es bezeichnet eine bestimmte Eigenschaft von Überzeugungen und von Behauptungen. Wahrheit kommt häufig vor. Wenn zum Beispiel einer glaubt, dass es heute noch Dinosaurier gibt, und ein anderer, dass es heute keine Dinosaurier mehr gibt, hat einer von ihnen eine wahre Überzeugung.

Wahrheit ist nicht Gewissheit

Leute, die sagen, Wahrheit gebe es nicht oder sei nicht erreichbar, verwenden dabei oft einen verzerrten Wahrheitsbegriff. Wenn sie überhaupt versuchen, für ihre These zu argumentieren, weisen sie darauf hin, dass wir uns stets irren können. Sie sind so enttäuscht darüber, dass wir Menschen fehlbar sind, dass sie anfangen, Wahrheit überhaupt abzulehnen. Hier müssen wir uns klarmachen, dass Wahrheit nicht Gewissheit ist. Alle unsere wahren Überzeugungen sind fehlbar und haben nur einen bestimmten Grad an Gewissheit. René Descartes hat im 17. Jahrhundert in der Philosophie damit begonnen, absolute Gewissheit zu fordern. Er wollte einen archimedischen Punkt des Wissens und nur das zur Wissenschaft zählen, was absolut gewiss ist. Aber so funktioniert Wissenschaft nicht. Wissenschaft funktioniert durch die Bildung von Hypothesen, die dann durch Beobachtungen gestützt und geprüft werden. Fehlbar ist der Mensch immer, das gehört zu seinem Wesen. Die überzogene Forderung nach Gewissheit ist typisch für die christentumskritischen Philosophen ab dem 17. Jahrhundert. Immanuel Kant hat sie auch stark vertreten. Sie führt zur These, dass wir nichts wissen können oder dass wir nichts über die Dinge an sich wissen können. Denn es ist natürlich richtig, dass wir nichts oder fast nichts unfehlbar über die Dinge wissen können. Wir können viel Wissen erlangen, aber es ist fehlbares Wissen mit mehr oder weniger Gewissheit.

Vernünftig denken heisst richtig denken. Um Vernunft kann man sich bemühen. Wenn man wahre Überzeugungen haben möchte, muss man nach Wahrheit suchen und sich bemühen, richtig zu denken. Aber Vernunft und Wahrheitssuche sind freiwillig. Manche Menschen lassen sich tatsächlich durch postmodernistische Aussagen in ihrem Streben nach Wahrheit und Vernunft schwächen. Insbesondere im Bereich der Religion, denken sie, könne man keine Wahrheit finden. Nach Wahrheit zu suchen und nach Vernunft zu streben, ist oft hart und unangenehm. Durch Vernunft erkennen wir, welche unserer Neigungen schlecht oder irreführend sind. Viele Menschen finden es zum Beispiel viel angenehmer, wenn es keinen Gott gibt, besonders einen Gott, der sie persönlich anspricht und will, dass sie Busse tun. Deshalb ist es angenehmer, nicht gründlich zu untersuchen, ob es einen Gott gibt, und Gott einen lieben Mann sein zu lassen oder sich auf knackig klingenden Pseudoargumenten gegen die Existenz Gottes oder gegen die christliche Lehre auszuruhen.

Ob jemand Christ wird, hängt wesentlich davon ab, wie sehr diese Person mit dem Herzen und mit dem Verstand nach Gott sucht. Gott zwingt uns nicht dazu, Busse zu tun und Christus anzunehmen. Er dringt nicht mit aller Macht in uns ein, sondern er steht vor der Tür und klopft an (Offb. 3,20). Bei Jeremia (28,13f) heisst es: «So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr.» Die Indizien für die Existenz Gottes und für die Wahrheit des Evangeliums sind derart, dass sie nur auf diejenigen wirken, die sich Mühe geben, die Wahrheit zu suchen.

Je weniger ein Mensch nach der Wahrheit über Gott sucht, desto unwahrscheinlicher ist es, dass diese Person Christ werden wird. Je mehr jemand glaubt, dass man nach Wahrheit in Sachen Religion nicht zu suchen braucht, weil «Wahrheit» sinnlos oder ein Herrschaftsinstrument ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass diese Person Christ werden wird. Eine wirkungsvolle Strategie, um Menschen vom Evangelium abzuhalten, war Immanuel Kants Lehre, dass wir von Gott nichts wissen können. Der Postmodernismus ist eine neue Strategie, um dasselbe zu bewirken.

Die Suche nach Wahrheit führt zu Gott

Wie sollen Christen auf den Postmodernismus reagieren? Ganz ungeschickt wäre es zu sagen: Die Menschen glauben nicht mehr an Wahrheit, daher müssen wir christlichen Wahrheitsanspruch und die christliche Lehre in den Hintergrund stellen. Es ist richtig, dass wir uns bei einigen Zielgruppen – zum Beispiel Studierenden – auf postmodernistisches Denken einstellen müssen. Aber unser Ziel muss sein, dass Menschen wieder lernen, nach Wahrheit zu suchen. Um das Evangelium überhaupt verstehen zu können, müssen sie erst wieder vernünftig werden.

Freundschaftliche Beziehungen können helfen, ihren Blick auf das Evangelium zu lenken. Aber letztlich kommt es darauf an, dass wir sie dazu führen, sich zu fragen, ob das Evangelium wahr ist. Wir müssen vom Postmodernismus beeinflussten Menschen in besonderer Weise erklären und betonen, dass es nicht darum geht, welches Weltbild wir mögen, sondern dass wir fragen sollten, welches Weltbild stimmt. Wir brauchen nicht Kirchen, die sich in der Absicht, «seekerfriendly» zu sein, an die nichtchristliche Umwelt anpassen, sondern Kirchen und Christen, die beständig in der Lehre sind und sich in allem um das Wahre, Gute und Schöne bemühen, und dadurch Menschen zu Jesus führen und Licht in der Welt sind.

Die Kraft der Wahrheit

Das Christentum hat ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit. Es gibt Religionen, die durch andere Dinge als Lehre auf das Bewusstsein wirken. In buddhistischer Meditation versucht man, alle Gedanken beiseite zu schieben und sich ganz zu entleeren, bis man in einem Zustand des Wohlgefühls ist, in dem einem nichts mehr beunruhigt, ohne Spannungen und ohne Streit. Das ist das, wonach sich heute viele Menschen sehnen: Hört doch auf mit all dem Streit über Lehren, sagen sie, habt euch einfach lieb und entspannt euch! Andere Religionen bringen die Menschen durch Tanzen und durch Trommeln oder auch durch Drogen in Stimmung, in Trance. Ist das Christentum in diesem Bereich einfach ein bisschen ärmer? Sind nicht die Wahrheitsbehauptungen und die Lehre des Christentums etwas Trockenes? Hat man diesen Bereich des Gefühls und der Stimmung im Christentum vielleicht vernachlässigt?

Nein, denn der christliche Glaube bewegt den Menschen noch viel umfassender und tiefer – aber nicht durch Sentimentalität wie «Es ist so schön, du bist mir so nah», und nicht durch Trance und nicht durch Trommeln. Sondern durch Wahrheit! Man kann versuchen, sich in Freude zu versetzen, indem man sich einredet «Ich freue mich». Aber tiefer und erstrebenswerter ist eine Freude, die einen Grund hat. Deshalb heisst es in einem christlichen Lied: «Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude».

Die Freude der Christen hat einen Grund

Die christliche Lehre gibt uns Grund zur Freude, zum Trost und für alles, was zum Leben als Christ gehört. Für alle Hingabe, alle Opfer, für alle zum Glauben gehörenden Handlungen und Gefühle haben Christen Gründe. Die christliche Lehre enthält diese Gründe. Der christliche Glaube ist auf eine Lehre gegründet. Das macht das Christentum zu einer überaus rationalen Religion. Es ist kein Zufall, dass die Philosophie im Christentum zur Blüte kam. Es gab immer Christen, die sich auf höchstem Niveau darum bemüht haben, die christliche Lehre im Detail auszubuchstabieren, Gründe für ihre Wahrheit zu finden und Einwände zu prüfen.

Das zeigt sich auch in alten Gesangbüchern. Hunderte über Hunderte von Liedern wurden gedichtet und gesungen, welche die christliche Lehre ins Herz bringen, so dass sie dort ihre Kraft entfaltet. Lieder, die uns einen Grund geben zur Freude, zum Trost, zum Weitersagen des Evangeliums, zum Kämpfen für das Gute. Katechismen und andere Bücher über die christliche Lehre helfen uns, die christliche Lehre besser zu verstehen und im Herzen zu tragen. Sie helfen uns auch dabei, das Evangelium besser weiterzusagen. Nicht zuletzt unterstützen sie uns dabei, Einwände gegen die christliche Lehre zu verstehen und zu bewerten.

Quelle der christlichen Lehre ist natürlich die Bibel. Sie müssen wir studieren und mit Gebet in unser Herz bringen. Gellert dichtete in einem Lied: «Dein Wort ist wahr, lass immerdar mich seine Kräfte schmecken. Lass keinen Spott, o Herr, mein Gott, mich von dem Glauben schrecken.» In Gottes Wort, in der Lehre, liegt die Kraft. Christlicher Wahrheitsanspruch ist daher im Zeitalter des Postmodernismus wichtiger denn je. Gerade wenn der Wert und die Wichtigkeit des Strebens nach Wahrheit vielen Menschen nicht mehr bewusst ist, müssen wir uns bemühen, uns auf Wahrheit auszurichten und beständig in der Lehre zu sein. In der Wahrheit liegt die Kraft.