Seit Jahrhunderten haben die biblischen Texte Menschen existenziell berührt und intellektuell beflügelt. Diese doppelte Wirkung der Bibel prägt auch in der VBG den Umgang mit der Heiligen Schrift.

Kürzlich wurde ich vom Rektor einer Mittelschule vorgeladen, zusammen mit den vier VBG-lern, die dort die Gruppe leiteten. Der Rektor eröffnete uns, dass die Schulleitung unsere Treffen in Räumen der Schule nicht mehr offiziell genehmigen werde. Wir könnten nach wie vor in den Räumlichkeiten zusammenkommen, doch müsse dies ohne Bewilligung der Schule geschehen. Als wir nach dem Grund fragten, war die Antwort eher diffus. Doch zwischen den Zeilen kam klar zum Ausdruck: Die Schule wollte nicht länger mit unseren Treffen in Verbindung gebracht werden, weil sie fundamentalistische Tendenzen befürchtete.

Gerade für Schulleitungen ist es schwer nachvollziehbar und oft suspekt, weshalb sich VBG-Gruppen auf Schulgelände treffen müssen. Und dass wir uns bei unseren Treffen so eingehend mit biblischen Texten befassen, ist erst recht verdächtig. Dabei ist unser Auftrag nicht weit entfernt von dem einer staatlichen Mittelschule: Eine VBG-Gruppe soll zu eigenständigem Denken befähigen und die persönliche Entfaltung anstossen. Beides sind zentrale Anliegen unseres Schulsystems – und auch der Bibel. Die kritische Selbstreflexion findet sich beispielsweise im Prinzip von Busse und Umkehr, das wir nicht nur in den Reden Jesu antreffen, sondern auch in den alttestamentlichen Propheten. Die rabbinische Tradition nimmt diesen Impuls auf, wenn sie betont, dass die Thora nicht still gelesen, sondern mindestens zu zweit diskutiert werden soll – und zwar so laut, dass alle Umstehenden in das Gespräch über den Text hineingezogen werden.

Diese dialogische Form gefällt mir. Dazu ein weiteres Beispiel: Ich sitze mit 20 Mittelschülerinnen und Mittelschülern im ausgebauten Luftschutzkeller einer Freikirche, der ihnen für diese Woche als Zuhause dient. Sie verbringen hier ein «Home Camp» (an anderen Orten nennt man es «Wohnwoche»). Für mich als Regionalleiter ist das eine tolle Gelegenheit, mit ihnen mehr Zeit als die üblichen 30 Minuten über Mittag zu verbringen. Wir teilen uns in Gruppen auf und lesen einen biblischen Text anhand der Wegstreichmethode. Dabei geht es darum, einen Bibeltext zu kürzen, bis nur noch die Kernaussage übrig ist. In den einzelnen Gruppen wird heftig diskutiert, was nun wichtig ist und was nicht. Einer der Schüler, ein Christ, hat seinen atheistischen Kollegen mitgebracht, der ebenfalls seine Meinung einbringt. Am Schluss des Abends frage ich die Jugendlichen, was sie an diesem Abend bewegt hat. Eine junge Frau bedankt sich fürs Bibellesen: «Ich schätze es, dass du uns dazu ermutigst und anleitest, die Bibeltexte selber zu durchdenken.»

Diese selbständige Denkweise ist schon in der Struktur der VBG-Gruppen angelegt. Die Leitung der Mittel- und Hochschulgruppen liegt bei Personen, die (wenn überhaupt) nur wenig älter sind als die anderen Mitglieder. Und die Form des gemeinsamen Bibellesens – im Gegensatz zu einer Predigt oder einem Katechismus – soll explizit dazu anregen, selber aktiv zu werden, nachzuforschen und um Antworten zu ringen. Eine VBG-Gruppe lebt immer von der Beteiligung aller Involvierten.

Anstösse für die eigene Auseinandersetzung

Dass diese Herangehensweise verunsichern kann, erlebte ich über Neujahr 2016/17 am PraiseCamp-Workshop «Grill the Book». Pro Durchgang sassen knapp 500 Jugendliche im Saal, die ihre Fragen an die vier VBG-ler auf der Bühne richten konnten: Kann durch Gebet etwas verändert werden, wenn Gott doch für jedes Leben einen Plan hat? Was sage ich der betroffenen Person, wenn nach einem Heilungsgebet keine Heilung geschieht? Die Antworten von der Bühne waren kurz und oft nicht abschliessend, aber das war auch nicht unser Ziel. Wir wollten Anstösse geben für die eigene Auseinandersetzung mit den verschiedenen Themen. Dieser Ansatz kam nicht bei allen gut an. Einige Jugendpastoren kamen nach der Veranstaltung auf mich zu und beklagten, dass wir nicht biblische Antworten gegeben hätten. Es stehe doch alles ganz klar in der Schrift, man müsse das halt einfach so akzeptieren!

Ich bin überzeugt: Eine eingehende Beschäftigung mit der Bibel ist nicht die Grundlage des Fundamentalismus, sondern im Gegenteil ein höchst wirksames Mittel gegen ungesunde Auswüchse. In einer Kolumne für die Aargauer Zeitung bezeichnet der Autor und Journalist Peter Rothenbühler die Bibel zurecht als «eine der ersten aufklärerischen Schriften überhaupt». Sogar er als Atheist erkenne die Bibel als das «Buch der Bücher», auf welches «das gesamte Wertesystem der heutigen demokratischen Staats- und Rechtsordnung zurückgeht». Wäre es vor diesem Hintergrund nicht naheliegend, auch im Unterricht vermehrt die Bibel zu thematisieren und gemeinsam darin zu lesen? Genau das war das Ziel des VBG-Projekts «reformare», das pünktlich zum 500-jährigen Reformationsjubiläum dazu ermutigte, an Mittelschulen und Hochschulen vermehrt die Bibel aufzuschlagen. Das Projekt startete im Sommer 2017. Auf der Webseite reformare.ch ist ein Video zu sehen, in dem prominente Schweizerinnen und Schweizer ausführen, weshalb sich das Bibellesen lohnt. Ich bin begeistert davon!