Aus welchem Blickwinkel, mit welcher Einstellung begegnen wir der Bibel? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend dafür, wie wir biblische Texte hören.
Durch meine Arbeit komme ich mit Christinnen und Christen aus der ganzen Welt in Berührung. Dabei begegnen mir auch Sichtweisen auf die Bibel, die es schwermachen, Gottes Wort als Geschenk zu begreifen. «Jede Woche gehen wir beim Bibellesen neue Verpflichtungen ein, die dann zur Last werden», berichtete mir eine Studentin aus Kamerun. In ihrer Hochschulgruppe gehe es beim Lesen der Bibel stets um bestimmte Handlungsanweisungen – was Gott will, das wir tun sollen. In Mexiko sprach ich mit einer Studentin, die sich durch die Bibel immer an ihre eigene Unzulänglichkeit erinnert fühlte. «Bibellesen ist für mich frustrierend», klagte sie. «Ich fühle mich beim Lesen schuldig, weil ich diesem Maßstab nicht entspreche. Und so wirft mich dieses Wort nur auf mich selber zurück.» Die Mitarbeiterin einer VBG-Schwesterbewegung in Eurasien erzählte mir, dass sie früher mit viel Motivation in der Bibel las, es heute aber langweilig fände. In unserem Gespräch wurde ihr klar, was hinter diesem Mangel an Motivation steckte: Unbewusst hatte sie bei jedem Bibellesen mit einer besonderen geistlichen Erfahrung gerechnet – und wurde zunehmend enttäuscht, wenn sich keine Offenbarung und kein erhebendes Gefühl einstellte.
«Sehen wir die Beschäftigung mit der Bibel als eine weitere Pflicht oder als ein wertvollen Geschenk?»
Wie wir an die Bibel herangehen, ist entscheidend für das, was wir darin wahrnehmen, was wir davon verstehen und ins Leben hinübernehmen. Eine Grundüberzeugung, die meinen Blick auf die Bibel prägt, ist, dass es primär auf Gott ankommt. Darauf, wer er ist und was er tut. Das zieht sich durch die ganze Bibel – Gott ist der primär Handelnde; er ist der Held jeder biblischen Geschichte. Im christlichen Leben geht es nicht primär um das, was wir tun – sondern um das, was Jesus für uns tut und getan hat. Angesichts von Jesus und seinem Wort sind wir allem zuvor Empfangende. So finde ich es naheliegend, beim Lesen der Bibel zunächst einmal zu schauen, was über Gott ausgesagt wird – und dann mein Leben und unsere Welt in diesen Kontext zu stellen. «Wer bist du, Herr?» ist dann eher die Leitfrage als «Was soll ich tun?».
Die Bibel als Begegnungsort
Als Gott sich uns offenbaren wollte, hat er nicht Bibeln vom Himmel regnen lassen. Stattdessen hat er auf vielfältige Art und Weise in unsere Welt hineingesprochen – und schließlich in Jesus sein tiefstes, schönstes, klarstes Wort gesprochen. Gottes Wort an uns ist nicht primär ein Buch, sondern eine Person. Und die Bibel ist der Begegnungsort, an dem wir Zugang haben zu dieser Person, zur Offenbarung Gottes in Jesus. Der VBG-Pionier Hans Bürki hat das wunderbar auf den Punkt gebracht: «Wir lesen nicht die Heilige Schrift, um Wissen aufzuspeichern, sondern wir suchen darin mit liebendem Herzen das Bild des geliebten Herrn.»
Die biblischen Texte sind nicht bloß Objekte unseres Nachdenkens und Studierens. Sie sind vielmehr Räume, in die wir eingeladen sind, um Jesus zu begegnen. Diese Erkenntnis ist gerade in der akademischen Welt wichtig. «Ihr erforscht die Schriften, denn ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben», sagt Jesus zu den Schriftgelehrten in Johannes 5. Und er fährt fort: «Die Schriften sind es, die von mir zeugen; und ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt.» (Johannes 5,39-40). Es ist tragisch, wenn wir uns mit Gottes Wort auseinandersetzen und dabei am Ziel dieses Wortes vorbei leben: An der Begegnung mit dem, der uns mehr liebt als es je ein Mensch tun wird. Ziel Machado, ein ehemaliger Mitarbeiter der VBG-Schwesterbewegung in Brasilien, sagte zu mir: «Jede Beschäftigung mit der Bibel sollte in die Anbetung und ins Gebet führen. Wenn es das nicht tut, läuft etwas falsch.»
Mehr als ein Sahnehäubchen
Ein weiterer Blickwinkel für unseren Umgang mit der Bibel ist der Vergleich mit Brot, dem Grundnahrungsmittel der nahöstlichen Kultur. «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht» (Deuteronomium 8,3; Matthäus 4,4). Das Wort Gottes ist kein Sahnehäubchen auf der Torte, kein süßes Extra, ohne das man auch noch gut durchs Leben kommen kann. Interessanterweise erscheint die Aussage im Neuen wie im Alten Testament im Zusammenhang mit einer Wüstenzeit – der Wüstenwanderung der Israeliten und der Versuchung Jesu. Vielleicht merken wir gerade dann, wenn vieles andere in unserem Leben wegbricht, wie sehr wir von Gott abhängig und auf sein Wort angewiesen sind.
Ganz konkret hat dies ein Kollege erlebt, der in einem Land aufgewachsen ist, in dem nur wenig Christen leben. Er wurde mit 15 Jahren Christ. Seine muslimischen Eltern schmissen ihn raus und sein Bruder sprach nicht mehr mit ihm. In der Schule wurde er gemieden. «Es war eine sehr harte, aber auch wertvolle Zeit», erklärte er. Er konnte keine Bibel mit ins Haus bringen, stattdessen riss er einzelne Seiten heraus und trug sie in seinen Socken bei sich, um bei jeder Gelegenheit darin zu lesen. «Ich spürte eine tiefe Liebe zu Jesus und einen Hunger nach seinem Wort.»
Die Bibel als Grundnahrungsmittel – dazu passt auch, dass in der Bibel mehrfach vom Essen des Wortes geredet wird. «Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing», sagt der Prophet Jeremia (15,16 in der Lutherübersetzung). Wenn ich ein Stück Brot erhalte, dann kann ich es anschauen, beschreiben, oder auch zerschneiden und unter das Mikroskop legen. Aber so lange ich es auf Distanz halte, kann ich es nicht essen. Wenn ich mich aber dafür öffne – wenn ich es in den Mund nehme und kaue, langsam und bewusst, dann entfaltet sich sein Geschmack immer mehr. Ein wunderbares Vorbild sind für mich dabei Kühe, die so lange und bedächtig kauen, bis alle Nährstoffe aufgenommen sind!
«Die biblischen Texte sind Räume, in die wir eingeladen sind, um Jesus zu begegnen.»
Wenn ich meine Nahrung schlucke, dann wird sie ein Teil von mir, sie wird umgewandelt in Energie zum Leben. So ist es auch mit dem Wort Gottes. Durch den Heiligen Geist wird es umgewandelt in Liebe, Gerechtigkeit, Geduld, Frieden, Vertrauen. Es lohnt sich beim Bibellesen zu fragen: Welche Antwort ist diesem Wort Gottes angemessen? Das kann eine Tat der Nächstenliebe sein, das Einstehen für Gerechtigkeit im Beruf, ein Schuldbekenntnis oder ein anderer Schritt des Gehorsams. Allerdings ruft uns nicht jeder Bibeltext dazu auf, etwas zu tun. Die angemessenste Antwort auf Gottes Wort kann auch sein, Gott zu loben, ihm in einer konkreten Situation zu vertrauen oder seine Liebe neu zu empfangen. Wenn wir in einer Gruppe die Bibel lesen und danach beten, hat das Gebet oft nichts mehr mit dem gelesenen Text zu tun. Gerade diese Zeit des gemeinsamen Gebetes könnte aber der Anfang einer Antwort an Gott sein. Dafür ist es hilfreich, die Gebetszeit als Fortsetzung des Bibelgesprächs anzusehen und z.B. mit der immer noch aufgeschlagenen Bibel zu beten. Wenn es um Gebetsanliegen geht, können wir uns fragen: «Wie sollen wir im Lichte dieses Bibeltextes für dich beten?» Auf Gottes Wort hören und Antwort geben gehören zusammen.
Nicht zuletzt kommen durch das Lesen der Bibel immer wieder Menschen zum Glauben. Auch das ist eine Erwartung, die wir an die Bibel haben dürfen. Faszinierend finde ich die Geschichte von Sophie, einer Studentin aus Frankreich. Sie hatte sich kurz davor für eine Vorlesung über die Bibel in der englischen Literatur eingeschrieben, als eine Freundin sie zu einer Bibellesegruppe einlud. Sophie hatte noch nie eine Bibel geöffnet und war gegenüber dem christlichen Glauben sehr ablehnend. Doch sie ging mit ihrer Freundin mit, weil sie sich von der Lesegruppe eine gute Vorbereitung auf ihre Vorlesung erhoffte. «Die Teilnahme an diesem Bibelkreis gehört zum Besten, was mir je passiert ist», erzählte Sophie später. «Zum einen fand ich dort liebe Freunde. Aber ich hörte auch das erste Mal von Jesus. Durch die biblischen Texte lernte ich Jesus immer besser kennen, und so war es mir dann möglich einen Schritt des Glaubens zu tun und ihm mein Vertrauen zu schenken.»
Lesen in der Gemeinschaft
Gottes Wort ist ein Geschenk, das wir mit Überzeugung weitergeben können. Denn es führt zum Leben. Obwohl wir das wissen, fällt es uns im Alltag manchmal schwer, Raum für Gottes Wort zu schaffen. Manchmal ist es schon eine Herausforderung, die Bibel vom Regal herunterzuholen. Ein erster Schritt kann sein, das Bibellesen in einer Gemeinschaft anzugehen. Ein holländischer Student erzählte mir, dass er mit einem guten Freund einen gemeinsamen Bibelleseplan hat und sie sich täglich per SMS über das Gelesene austauschen. Ich kenne ein Ehepaar, das in ihrer jeweiligen stillen Zeit den gleichen Text liest und dann beim Frühstück über das Gelesene redet.
Es kann auch helfen, die eigenen Gewohnheiten unter die Lupe zu nehmen. So hat es Isra Ortiz erlebt, ein Mitarbeiter der VBG-Schwesterbewegung in Guatemala: «Jahrelang hatte ich die Angewohnheit, abends spät aufzubleiben. Morgens fiel es mir dann schwer, aufzustehen. Ich war oft müde und hatte es immer eilig. Das hielt mich davon ab, qualitativ wertvolle Zeit mit Gott und seinem Wort zu verbringen. Gott machte mir deutlich, dass ich meinen Lebensstil verändern und früher ins Bett gehen sollte. Das übe ich nun ein. An manchen Tagen fällt es mir sehr schwer. Diese schlichte Veränderung meines Lebensstils hat zur Folge, dass ich erholter bin, früher aufwache und den Tag mit Gott beginne. Seitdem ich begonnen habe, morgens in der Bibel zu lesen, habe ich eine neue Beziehung zum Wort Gottes bekommen.» Andere wiederum nutzen gerade die Nacht. Studierende in Burkina Faso wollten sich intensiver mit der Bibel beschäftigen, als dies bei einem normalen Gruppenabend möglich ist. Nun treffen sie sich gelegentlich zu Bibelstudiennächten von 19:30 bis 5:00 Uhr.
Diese Beispiele sind vielleicht nicht beliebig übertragbar, aber sie können Mut machen, auch in unserem Leben neue Räume für das Wort Gottes zu suchen. Gerade inmitten unseres oft so vollen Alltags wird viel daran hängen, ob wir die Beschäftigung mit der Bibel als eine weitere Pflicht ansehen oder als ein wertvolles Geschenk – als Arbeit oder als Mahlzeit, die uns nährt. So lohnt es sich, weiter über die eigenen Blickwinkel auf das Bibellesen nachzudenken und darüber miteinander ins Gespräch zu kommen.