Lernen von Philippus
Bei Evangelisation geht es um Beziehungen. Es geht nicht in erster Linie um Veranstaltungen, die wir organisieren und für die wir dann in der Mensa Flyer auslegen. Natürlich treten wir damit in die Hochschulöffentlichkeit und nehmen am Diskurs unterschiedlicher Weltanschauungen teil. Doch wenn wir nicht mit Freunden unterwegs sind, mit ihnen Leben teilen und über tiefe Fragen im Gespräch sind, dann bleiben wir bei unseren Events oft unter uns.
Unsere Kollegen und Kolleginnen sind diejenigen, die wir ganz natürlich einladen können und bei denen die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, dass sie kommen. Sie sind es, die wir vor Augen haben, wenn wir ein Thema und einen Referenten auswählen und uns über den Rahmen der Veranstaltung Gedanken machen. Mit ihnen können wir uns davor zum Abendessen verabreden und danach noch Stunden weiterdiskutieren. Dabei bietet der Vortrag hoffentlich gute Anknüpfungsmöglichkeiten für die persönlichen Gespräche und gibt neue Anstösse. Events bauen also auf persönlichen Freundschaften auf und unterstützen sie. Sie bringen uns aber auch in Kontakt mit neuen Leuten, zu denen jetzt erst Beziehungen entstehen. Deshalb ist es ganz zentral, dass wir – bevor es losgeht oder beim Apéro – nicht nur mit VBG-Leuten im Gespräch sind, sondern auch auf Gäste zugehen. Dass wir sie willkommen heissen, sie kennenlernen und uns für ihre Geschichten, ihre Fragen und Themen interessieren. Ganz im Sinne der Gastfreundschaft und Beziehungshaftigkeit Gottes!
In der Apostelgeschichte finden wir nicht nur Berichte von grossen Events wie z.B. die berühmte Rede von Paulus auf dem Areopag (Apostelgeschichte 17,16ff). Wir sehen auch, wie in kleinen Gesprächsgruppen die Neuigkeiten von Jesus diskutiert werden, etwa am Stadtrand von Philippi zwischen Paulus, Lydia und einigen anderen Frauen (Apostelgeschichte 16,13). Und wir lesen davon, wie die Apostel in Eins-zu-Eins-Situationen mit Menschen im Gespräch sind. So ist es bei der Begegnung zwischen Philippus und dem äthiopischen Finanzminister, die wir uns heute genauer anschauen werden (Apostelgeschichte 8,26ff).
Philippus – der geborene Evangelist?
Philippus gehört zu den Leuten, die in der Gemeinde für die praktischen Aufgaben zuständig sind, für Dinge wie Essen verteilen und die Witwen versorgen (Apostelgeschichte 6,5). Er ist nicht der Starprediger in Jerusalem, sondern arbeitet meist unscheinbar im Hintergrund. Sein Auftrag ändert sich jedoch, als die Gemeinde in Jerusalem verfolgt wird. Jetzt geht er nach Samarien und predigt dort – und es passiert Erweckung. Und dann? Dann ruft ihn ein Engel in die Wüste. «Um die Mittagszeit in die Wüste? Wie sinnlos ist das denn?», hat sich Philippus vielleicht gedacht. Sollte er wirklich die Erweckung in Samarien verlassen?
«Hier ist grad echt viel zu tun. Hier passiert etwas. Gott, kannst du nicht jemand anderen rufen? Ich kann hier nun wirklich nicht weg.» – Gut möglich, dass ich so reagieren würde. Aber Philippus geht. Es scheint für ihn keinen Unterschied zu machen, ob er die praktischen Aufgaben im Hintergrund erledigt, vor Hunderten predigt oder einem Einzelnen in der Wüste von Jesus erzählt.
Wenn der Heilige Geist uns unterbricht
Manchmal wird eine Aufgabe durch die Not anderer Menschen an uns herangetragen, so wie das bei Philippus’ Dienst in der Gemeinde der Fall war. Manchmal ist es aber auch ein Impuls des Heiligen Geistes, der uns in bestimmte Begegnungen ruft. Wenn ich sensibel für solche Impulse bin, erlebe ich immer wieder interessante Dinge. Manchmal ist das etwas unbequem. Ich werde unterbrochen oder denke: Was soll ich denn jetzt sagen? Und was denken die anderen? Aber genau dieses Wagnis eröffnet Raum für spannende Erlebnisse mit Gott im Alltag! Ich merke, wie der Heilige Geist mich sanft in eine vorbereitete Begegnung schubst. Da wollte ich noch so viel arbeiten und begegne einer geflüchteten Person im Zug, mit der ich mich mehrere Stunden unterhalte. Oder ich denke an einen vollen Raum bei Hochschultagen – ich bin unsicher, wo ich mich hinsetzen soll und spreche ein kurzes Gebet. Im Nachhinein merke ich, dass ich genau am richtigen Tisch gelandet bin.
Gott ist schon längst am Werk
Auf seinem Wüstenabenteuer trifft Philippus einen Mann mit einer bewegten Geschichte. Er ist einflussreich und vermögend, so etwas wie der Finanzminister der Königin von Äthiopien. Den jüdischen Glauben findet er faszinierend, deshalb hat er für seine Pilgerreise nach Jerusalem weder Kosten noch Mühen gescheut – auch wenn ihm als Eunuch der Zutritt zum Tempel verwehrt bleibt. In Jerusalem kaufte er sich eine alte Schriftrolle, die er jetzt im Wagen studiert. Philippus trifft also auf einen hochreligiösen Mann. Dessen Geschichte mit Gott hat schon lange vor dieser Begegnung begonnen.
Auch mit den Menschen, die neben uns in den Vorlesungen und Seminaren sitzen, schreibt Gott längst schon seine Geschichte: Er hat sie gemacht, kennt sie, liebt sie und zeigt sich – mal offensichtlicher und mal verborgener – in ihrem Leben. Weil wir für diese Verbindung zu Gott geschaffen sind, weil unser Herz für die Ewigkeit gemacht ist, deshalb spüren die meisten Menschen etwas von Gottes Fingerabdruck in ihrem Leben. Bei manchen ist das sehr deutlich: Sie gehen pilgern und beschäftigen sich mit Spiritualität. Bei anderen sind es bestimmte Momente, die sie gleichsam aufhorchen lassen, die die Frage aufwerfen, ob es nicht doch noch mehr geben könnte: Erlebnisse in der Natur oder die Geburt eines Kindes. Bei manchen ist diese Sehnsucht aber auch völlig zugedeckt und «sie haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben.»
Auch an unseren Hochschulen gibt es Studierende, die sehr interessiert sind am christlichen Glauben. Nach einem Hörsaalvortrag in Fribourg erzählte mir ein Medizinstudent, dass er auf der Suche nach etwas im Leben ist, das trägt. Und dass er sich fragt, ob der Glaube an den Gott der Bibel ein tragfähiges Fundament für sein Leben sein könnte. Oft denken wir, dass die Leute eh kein Interesse haben. Aber lasst uns erwarten und beten, dass Leute offen sind und der Heilige Geist uns auf diese Leute aufmerksam macht.
Welche Fragen bewegen meine Freunde?
Wahrscheinlich kommt es eher selten vor, dass wir über den Campus unserer Hochschule gehen, neben uns jemand laut das Jesaja-Buch liest und wir dann fragen können: «Verstehst du eigentlich, was du da liest?» Aber auch in unseren Gesprächen sind Fragen Türöffner für gute Gespräche. Ich wünsche mir, dass wir als VBG dafür bekannt sind, gute Fragen zu stellen. Nur wenn wir gute Fragen stellen, lernen wir unser Gegenüber wirklich kennen, erfahren, was ihn oder sie bewegt und was seine oder ihre Einwände gegenüber dem christlichen Glauben sind. Was ist das für ein Gott, an den meine Kollegin nicht glaubt? Was sind die Fragen, für die sich mein Freund brennend interessiert? Und könnte das Evangelium hier eine interessante, neue Perspektive auf die Fragen unserer Mitmenschen geben?
Die Passage, die der Finanzminister liest, ist nicht nur theologisch wichtig, sondern auch für ihn persönlich höchst relevant. Unmittelbar vor dem Vers, den er mit Philippus bespricht, steht eine Verheissung, die direkt in seine Situation als Eunuch passt (Jesaja 56,3-5): Ein «Verschnittener» bekommt eine Familie. Er bekommt einen Namen und eine Zukunft, indem er Teil der Familie Jesu wird. Das Evangelium berührt hier eine ganz tiefe, existenzielle Frage des reichen Ministers. Auf welche tiefen, existenziellen Fragen unserer Kollegen wirft die Botschaft von Jesus Christus hoffnungsvolle Perspektiven?
Wegbegleiter sein
Es ist wohl eher die Ausnahme, dass jemand nach einem Glaubensgespräch sofort Christ wird und sich taufen lässt. Glaubenswege sind Prozesse! Auch der Weg des Finanzministers hat ja schon lange begonnen. Wir sehen hier nur eine Sequenz auf einem langen Weg! In unserem Alltag treffen wir Menschen auf ganz unterschiedlichen Etappen ihres Weges: Manche sind ablehnend, manche skeptisch, manche interessiert. In der Glaubensgeschichte eines Menschen gibt es häufig verschiedene Personen, die als «Wegbegleiter» eine Rolle spielen. Dabei ist jede Wegstrecke von Bedeutung und jede Begleiterin wichtig. Der Schritt vom Desinteressierten zum etwas aufgeschlosseneren Zuhörer ist genauso entscheidend, wie ein öffentliches «Ja» zur Liebe Gottes.
Freudig seines Weges ziehen
Philippus war nie in Äthiopien. Aber die Botschaft von der bedienungslosen Liebe Gottes kommt dorthin durch die Begegnung, die Philippus mit einem Touristen auf seiner Pilgerreise hatte. Die Welt ist zu Gast in der Schweiz, nicht nur in den Touristengebieten, sondern auch an unseren Hochschulen. Internationale Studierende, die hier in der Schweiz Jesus Christus kennenlernen, werden in ihren Heimatländern Botschafterinnen und Botschafter der Liebe Gottes sein. (Das Buch «Wie Sterne in der Nacht» von Lindsay Brown erzählt einige ihrer Geschichten.)
Auch Philippus zieht mit Sicherheit fröhlich seines Weges. Was gibt es Schöneres als zu erleben, dass Menschen bewegt sind von der Liebe Gottes, dass sie Jesus kennenlernen, sich vielleicht sogar taufen lassen? Das gibt Kraft und Motivation für Wüstenerfahrungen: Für die Momente, in denen wir Ablehnung erleben, Gespräche unbefriedigend verlaufen oder es einfach mühsam ist, an einer Freundschaft dranzubleiben. Wo wir jetzt schon Frucht sehen dürfen, ist das ein besonderes Privileg und eine grosse Freude.
Mancher denkt sich vielleicht: Ich sollte sein wie Philippus, fühle mich aber wie der Finanzminister. Ich bin auf der Suche und pilgere von einem christlichen Event zum nächsten. Oft verstehe ich die Bibel selbst nicht und zweifle daran, ob ich wirklich zur Familie Gottes dazu gehöre. In solchen Situationen kann die Erinnerung an unsere eigene Taufe uns vergewissern: Ich gehöre zu Jesus Christus und bin sein Kind, Gottes «Ja» steht über meinem Leben, auch wenn ich das nicht spüre und Zweifel mich befallen. Der Blick von uns weg auf Jesus Christus und seine Zusagen verändert und schenkt Gewissheit. Und dann wird der Finanzminister, der fröhlich seines Weges zieht, zu Philippus dem Evangelisten.