Schwäche zeigen
Wie Andrea Signer-Plüss lernte, zu ihren Grenzen zu stehen.
Andrea Signer-Plüss verantwortet das Kursangebot der VBG. Sie ist als Kursleiterin und Referentin tätig und betreibt eine eigene Praxis für Psychotherapie und Beratung in Grosshöchstetten. Sie ist verheiratet mit Roman, das Paar lebt bewusst kinderlos.
Andrea, tanzt du gerne auf verschiedenen Hochzeiten?
Tatsächlich laufe ich immer wieder Gefahr, zu viel in mein Leben zu packen. Ich bin rasch zu begeistern, vielseitig interessiert und plane gern. Dass ich mich beruflich in verschiedenen Gebieten bewege, ist aber zugleich eine Schutzmassnahme: In der therapeutischen Arbeit geht mir das Schicksal der Menschen oft sehr nahe.
Um meinen Grenzen Sorge zu tragen, habe ich nie mehr als 60% als Psychologin gearbeitet. Schon bald nach meinem Berufseinstieg habe ich ein zweites Standbein als Referentin und Dozentin aufgebaut und theologische Kurse am TDS in Aarau besucht. Psychologie und Theologie miteinander in Verbindung bringen – das ist meine Leidenschaft. Übrigens auch in VBG-Kursen.
Du scheinst dich mit deinen Grenzen versöhnt zu haben.
Dass ich Hilfesuchende in psychischen Krisen und komplexen Lebenssituationen begleiten und ihnen in der Therapie einen Schutzraum bieten kann, hängt nicht nur mit meiner Ausbildung zusammen, sondern auch ganz wesentlich mit meiner Geschichte, dem Wissen um meine Grenzen und einem versöhnten Umgang mit meiner eigenen Verletzlichkeit. Hier rufe ich mir immer wieder Dostojewskis Zitat in Erinnerung: «Habe dein Schicksal lieb, denn es ist der Weg Gottes mit deiner Seele.» Dazu gehört auch, dass ich immer neu lernen muss, mit meiner hohen Sensibilität klarzukommen. Diese macht mich einerseits verwundbar, andererseits empfinde ich sie auch als wertvolles Kapital.
Verletzlichkeit als Kapital, tatsächlich?
Ich verbinde das Thema Verletzlichkeit eng mit meiner Lebensgeschichte: In meiner Kindheit war ich mit psychischen Erkrankungen im familiären Umfeld konfrontiert, was eine schmerzhafte Erfahrung war, die mich zugleich aber auch für Betroffene und ihre Angehörigen geöffnet hat. Mein Wunsch, Psychotherapeutin zu werden, ist auf diesem Nährboden gewachsen.
Nach zehn Jahren im Beruf – zuerst stationär, dann ambulant – war meine Bilanz jedoch ziemlich ernüchternd: Ich hatte – nicht zuletzt aufgrund meiner familiären Disposition – mit psychischen Herausforderungen zu kämpfen und war immer wieder am Rand meiner Kräfte. Ich zog eine berufliche Neuorientierung in Erwägung und prüfte verschiedene Alternativen.
Wie hast du diese Krise gemeistert?
2016 bis 2018 habe ich ganz von der therapeutischen Arbeit pausiert. Rückblickend hat sich dieser für mich mutige Schritt ins Ungewisse mehr als gelohnt: Ich habe in jenen zwei Jahren nicht nur eine Anstellung in der VBG, sondern auch psychische Stabilität und eine neue Überzeugung für meinen Beruf gewonnen. Das Abenteuer einer eigenen Praxis hätte ich ohne diese Zäsur und das überraschende Raumangebot in unserem Dorf vermutlich nicht gewagt. Wie sich alles ergeben und gefügt hat, ist für mich ein Geschenk des Himmels und ein Beispiel dafür, wie Gott mir Entscheidungsspielraum lässt und sich dennoch als treuer Versorger um mein Leben kümmert. Die Krise ist zur Chance für einen Neubeginn geworden.
Welche Rolle spielt Gott in grossen Lebensentscheidungen?
Während ich in meiner Jugendzeit noch fest davon überzeugt war, dass Gott einen genauen Plan für mein Leben hat, dem ich Schritt für Schritt zu folgen habe, weiss ich heute, dass er mir mehr Raum und Freiheit schenkt, als mir manchmal lieb ist: Gott nimmt mir meine Entscheidungen nicht ab, sondern erwartet von mir, dass ich als sein Kind mein Leben in Eigenverantwortung und in Ehrfurcht vor Ihm und seiner Schöpfung gestalte.
Natürlich versuche ich, Gott besonders bei wichtigen Themen in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen. Dabei bieten mir nicht nur Bibelworte und Gebet Orientierung, sondern auch meine inneren Signale und Empfindungen: Für mich beginnt das Reden Gottes in seiner Schöpfungsordnung, in der Art und Weise, wie er uns Menschen gemacht und ausgestattet hat. So wie mein Körper mir verlässlich Auskunft darüber gibt, wann ich Hunger oder Durst habe, aufs Klo muss oder müde bin, so hilft mir meine Seele, mich im Leben zurechtzufinden.
Anstehende Entscheidungen bewege ich deshalb längere Zeit in meinem Inneren. Meine Gefühle geben mir Auskunft über meine Hoffnungen und Ängste, mein Verstand ermöglicht mir, verschiedene Optionen zu analysieren. Schliesslich diskutiere ich Fragen und Unsicherheiten mit meinem Mann und anderen Menschen, die mich und meine blinden Flecken gut kennen, und denen ich erlaube, in mein Leben hineinzureden. Nicht selten erfahre ich gerade auch in ihren Worten Gottes Zuspruch oder Korrektur.
Also Entscheidungen treffen durch prüfendes Vortasten?
Auf meiner persönlichen Wegsuche halte ich es mit dem Verfasser von Psalm 139. Dieser schreibt in Vers 1–5: «Herr, du hast mein Herz geprüft und weisst alles über mich. Wenn ich sitze oder wenn ich aufstehe, du weisst es. Du kennst alle meine Gedanken. Wenn ich gehe oder wenn ich ausruhe, du siehst es und bist mit allem, was ich tue, vertraut. Du, Herr, weisst, was ich sagen möchte, noch bevor ich es ausspreche. Du bist vor mir und hinter mir und legst deine schützende Hand auf mich.»
Psychologie & Glaube verbinden
Andrea Signer-Plüss verantwortet das Kursangebot der VBG und leitet auch selber verschiedene Kursangebote. Ihre Leidenschaft gilt der Verbindung von Themen rund um Psychologie, Persönlichkeit, Glaubenspraxis und Theologie.
Er schliesst in Vers 24: «Zeige mir, wenn ich auf falschen Wegen gehe, und führe mich den Weg zum ewigen Leben.» Diese Bitte ist für mich zugleich ein Vertrauensvotum: Ich darf mich in meinem Sein, Tun und Lassen geborgen wissen bei einem Gott, der mir gute Entscheidungen zutraut und zugleich treu über meinem Leben wacht.
Innere Signale und Gottvertrauen – waren das auch ausschlag gebende Faktoren bei eurem Entscheid, keine Familie zu gründen?
Roman und ich haben 2001 während meines Psychologiestudiums geheiratet – ich war gerade mal Zweiundzwanzig. Vor mir lagen neun Jahre Ausbildung, an Kinder war zu jenem Zeitpunkt nicht zu denken. Die Zeit zu zweit empfanden wir als Chance: Wir hatten reichlich Gelegenheit, uns kennen zu lernen und ein solides Fundament für unsere Beziehung zu bauen.
Als wir uns dann später mit der Kinderfrage aktiv auseinanderzusetzen begannen, wurde bald einmal klar, dass wir uns nicht wirklich vorstellen konnten, eine Familie zu gründen. Zum einen verspürte weder Roman noch ich einen aktiven Kinderwunsch, und wir waren uns einig, dass wir zu einer so grossen Aufgabe ein klares Ja hätten haben müssen.
Zum anderen hatte unsere Entscheidung auch mit uns als Personen und mit unseren Grenzen zu tun: Roman braucht als introvertierter Mensch viel Zeit für sich und erlebt Beziehungen mehrheitlich als anstrengend. Schon die Verbindlichkeit einer Ehe war für ihn alles andere als selbstverständlich. Ihm machte die Aussicht Angst, seine Autonomie aufgeben und als Vater ein Leben lang Verantwortung tragen zu müssen.
Ich selber hatte intuitiv immer Beziehungen zu alten Menschen gepflegt, mich mit Kindern jedoch tendenziell überfordert gefühlt. Darüber hinaus empfand ich mein Dasein schon ohne Kinder als alles andere als ein Spaziergang – ehrlich gesagt fühlte ich mich der Aufgabe, Mutter zu sein, damals schlicht nicht gewachsen.
Nach einer längeren Phase des Diskutierens, Fragens und Betens entschieden Roman und ich uns schliesslich für ein Leben zu zweit, im Vertrauen darauf, dass Gott uns vom Gegenteil würde überzeugen können, wäre sein Plan mit uns ein anderer – und dafür wollten wir offen sein. Dass wir uns als Paar einig waren und diese Frage unsere Beziehung nicht auf den Prüfstand stellte, empfanden wir bereits als ein kleines Wunder.
Wie hat euer Umfeld reagiert?
Romans Eltern waren nicht überrascht. Er war schon über dreissig, als wir uns kennenlernten, und ich glaube, sie freuten sich einfach, dass wir uns als Paar gefunden hatten. Für meine Eltern war es etwas schwieriger. Besonders meine Mutter, für die Kinder und Familie zum Kostbarsten überhaupt gehören, hatte am Anfang Mühe, unsere Entscheidung zu verstehen. Sie fürchtete, ich würde diesen Schritt irgendwann bedauern – zumal sie fest davon überzeugt war, dass ich eine gute Mutter geworden wäre.
Unsere Geschwister und Freunde hatten unseren Prozess miterlebt und stellten sich hinter uns. Im christlichen Umfeld indes hatte ich manchmal den Eindruck, unseren Weg rechtfertigen zu müssen. Hier bin ich fast nur ungewollter – und damit schmerzhafter – Kinderlosigkeit begegnet. Freiwillige Kinderlosigkeit war selten ein Thema und darüber zu sprechen nicht selbstverständlich.
Hast du diese Entscheidung nie bereut?
Es ist wirklich Ruhe und Frieden eingekehrt in dieses Thema. Klar gibt es auch wehmütige Momente, aber ich bin versöhnt mit unserem Weg. Ich kann mich als Ehefrau, Tochter, Schwester, Tante, Gotte, Freundin und nicht zuletzt auch als Psychotherapeutin in viele kleine und grosse Menschen investieren, Beziehungen pflegen und Spuren der Liebe Gottes hinterlassen. Dies ist möglich, obwohl – und vielleicht gerade auch weil – ich nicht Mutter geworden bin.
Die Fragen stellte Jonas Bärtschi.