Ein Sabbat für die Seele

Gott macht schon auf den ersten Seiten der Bibel deutlich, dass Ruhe eine unverzichtbare Massnahme zum Schutz des Lebens ist. Doch im Hamsterrad des alltäglichen Nützlichkeitsstrebens kommt sie oft zu kurz.

«Das Ruhen ist in Verruf geraten. Wir entschuldigen uns dafür, als wäre es eine Sünde. Wir müssen uns dafür verantworten, als wäre es ein Vergehen. Und was noch schlimmer ist: Wir gehen mit der Ruhe um, als könnten wir eigentlich gut ohne sie auskommen. Das geht so weit, dass wir es schier unverzeihlich finden, müde zu sein.»

Mit diesen Worten beginnt Tomas Sjödin, Schriftsteller und Pfarrer, sein Buch «Warum Ruhe unsere Rettung ist». Es ist ein Plädoyer für die Ruhe als «einen Raum, einen Windschutz, ein Versteck für die Liebe, etwas so Aussergewöhnliches wie ein Weg zurück ins verlorene Paradies und etwas so Handfestes wie ein Rettungsring.» Dabei schreibt Sjödin vor allem für sich selber: Er ist sich bewusst, dass er als ruhelose Person wahrgenommen wird und bezeichnet sich schonungslos als «besetzten» Menschen. Im Schwedischen wird für «beansprucht» und «besetzt» dasselbe Wort verwendet. Eine Toilette oder eine Umkleidekabine können besetzt sein, ein Mensch aber auch.

Grundprinzipien seelischen Erlebens

Die Gefahr, uns von Pflichten und Pendenzen besetzen zu lassen, thematisiert auch Dr. Marco von Münchhausen, Jurist und Autor. In seinem Buch «Wo die Seele auftankt» beschreibt er, dass Menschen durch eine Vielzahl an Faktoren und Umständen von ihrem Inneren abgelenkt und weggezogen werden. Unsere Aufmerksamkeit und unser Handeln verlagern sich immer mehr nach aussen. Wir geraten sozusagen in einen Sog, der uns von uns selbst entfernt und den Kontakt zu unserem inneren Seelenraum schwächt. Im vergeblichen Versuch, die dadurch entstehende Leere mit neuem Inhalt zu füllen, rotieren wir immer schneller in der Zentrifuge unseres äusseren Lebens. «Je weiter wir uns von unserem Zentrum entfernen, desto grösser wird die Rotationsgeschwindigkeit – und desto mehr scheinen unsere inneren Wahrnehmungskanäle zu verstopfen. Wir verlieren gewissermassen unsere inneren Antennen und das Gehör für die leise Stimme unseres Herzens, unserer wichtigsten und innersten Orientierungszentrale.»

Diesen Zustand beklagt auch Dr. Andreas Loos, Dozent für systematische Theologie am Theologischen Seminar St. Chrischona in seinem Gedicht «Hamsterrad»: «Ich wollte doch zu mir selbst finden, aber es fühlt sich so an, als dürfte ich nie der sein, der ich bin, als müsste ich gestern schon der gewesen sein, der ich morgen sein könnte. (…) Ich wollte doch auf die Leiter, die nach oben geht; auf die Schiene, die mich in die Zukunft fährt, aber es fühlt sich so an als hätte einer die beiden Enden meiner Leiter zusammengebogen und ein Hamsterrad daraus gemacht.»

Wie also aussteigen aus dem Hamsterrad? Von Münchhausen zufolge kann die Beachtung von sieben Grundprinzipien des seelischen Erlebens dabei helfen, unser Gleichgewicht wiederzugewinnen. Diese Prinzipien wirken dem zentrifugalen Sog entgegen und stärken jene Kräfte, die uns zum Zentrum zurückführen und uns wieder bei uns selbst und in der Ruhe ankommen lassen. Ich möchte nur vier davon erwähnen:

1. Qualität statt Quantität

In der Suche nach Lebensqualität geht es nicht um Lebensfülle, sondern um erfülltes Leben. Das Leben vieler Menschen ist heute übervoll, selten aber erfüllt. Ein Weg von der Quantität zur Qualität besteht zum Beispiel im Verzicht, in der Reduktion äusserer Reize als Quelle der Ablenkung. Um den Kontakt zu uns selber und zu Gott zu stärken, können wir stille Plätze aufsuchen (Reduktion akustischer Reize), die Augen schliessen (Reduktion optischer Reize) oder fasten (Reduktion geschmacklicher Reize).

2. Ergriffenwerden statt ergreifen

Inneres Auftanken und Durchatmen geschieht meist in Momenten, in denen wir von etwas ergriffen werden: von den Klängen einer Melodie, den Farben eines Bildes, der Schönheit einer Landschaft, von der Stille eines Ortes, der Aussage eines Gedichtes oder der Kraft eines Gebetes. Die Seele hat offensichtlich eine Vorliebe für Umstände, die nicht greifbar, fassbar oder berührbar sind. Sie will sich ergreifen, erfassen, berühren lassen. Die Seele lebt vom Ergriffensein.

3. Das Tempo der Seele

Die Seele braucht Zeit, um das Leben zu verkosten. Ihr Tempo ist langsam. Weil die äussere Welt ständig an Geschwindigkeit zulegt, ist es grundlegend wichtig, innerlich immer wieder zu verlangsamen, Raum zu schaffen, um in der Stille der Seele Gehör zu schenken: «Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?» (Psalm 42, 5)
Weil wir regelmässiges Nichtstun verlernt haben, versuchen wir, unsere innere Ruhelosigkeit durch Vollbremsungen wettzumachen. Wir hangeln uns von Ferien zu Ferien, arbeiten jahrelang auf ein Sabbatical hin oder gönnen uns nach Monaten der Verausgabung eine Auszeit. Die Ruhe aber ist keine Belohnung, nichts, was man sich verdienen muss. Sie ist eine seelische Notwendigkeit.
Wir dürfen wieder lernen, Sachen zu versäumen. Sjödin erwähnt, dass es im westschwedischen Schärengebiet eine Insel gibt, die Onyttan («Unnütz») heisst, und regt dazu an, sich im eigenen Lebensumfeld eine Onyttan-Insel zu schaffen, an der man anlegt, an Land geht und endlich aufhört, nützlich zu sein.

4. Die Frequenz der Seele

Nicht nur das Tempo der Seele ist langsam. Neuropsychologische Messungen machen deutlich, dass auch deren Frequenz ruhig ist: In der Regel schwingen unsere Gehirnströme im Alltag in den so genannten Beta-Frequenzen von 13 bis 40 Hertz. Je gestresster unser Leben, desto höher und schneller die gemessenen Frequenzen. Die Frequenz der Seele ist – wie auch ihr Tempo – langsam. Optimal für Kreativität und Lernen sind die sogenannten Alpha-Frequenzen von 8 bis 14 Hertz. Und gelangen wir durch Meditation, Kontemplation und Entspannung gar in den Bereich der Theta-Frequenzen (4 bis 7 Hertz), lassen diese uns nicht nur innerlich auftanken, sondern stärken zugleich unser Immunsystem. Wenn wir mit unserer Seele in einen Dialog kommen wollen, müssen wir also die Frequenz wechseln: von schnell auf langsam.

Ruhen als Gebot der Stunde

Was Psychologen in zahlreichen Studien belegen, wird in der Bibel schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte als geistliches Prinzip etabliert: Regelmässige Aus- und Ruhezeiten sind elementarer Bestandteil der Schöpfungsordnung. «Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun.» (Exodus 20,8-10) Oder in den Worten Sjödins: «Arbeit und Ruhe. Arbeit und Ruhe. So monoton, so gewöhnlich, so unspektakulär ist der Klang des guten Lebens.»

Dass das Sabbatgebot Eingang in die Zehn Gebote gefunden hat, ist erstaunlich. Angesichts der Aufforderungen, nicht zu töten und die Beziehung eines anderen Menschen nicht zu zerstören, wirkt das Gebot, einen Tag in der Woche zu ruhen, wie eine vernachlässigbare Wellness-Empfehlung. Tatsächlich macht Gott aber schon auf den ersten Seiten der Bibel deutlich, dass Ruhe eine unverzichtbare Massnahme zum Schutz des Lebens ist. In Exodus 31,15-17 streicht er den Sabbat als Bundeszeichen heraus und erinnert sein Volk daran, dass er selber am siebten Tag ruhte und aufatmete. Im Hebräischen steht hier wörtlich «ausatmen» (nefesch). Der Theologe Wayne Muller schreibt, dass die Schöpfung wie ein lebensspendendes Einatmen und der Ruhetag wie ein Ausatmen zu verstehen sind.

Gott macht uns das Ruhen vor und lädt dazu ein, es ihm gleich zu tun. Dazu nochmal Sjödin: «Die Ruhe ist kein Rückschritt, auch kein Anhängsel. Sie ist kein Zwischenstopp zwischen wichtigen Aufgaben, kein frommer Bonus-Gedanke. Sie ist geschaffen worden und deshalb Teil unserer Aufgabe, als Menschen zu leben. Wer ruht, nimmt seine Lebensaufgabe ernst. Jeden Morgen erwachen wir in einer Welt, die wir nicht selbst geschaffen haben. Sie ist da. Wir finden sie vor. Regelmässig zu ruhen ist die aktive Entscheidung, diese Welt niemals für selbstverständlich zu halten.»

«Aufatmen», «sich erholen», «sich entspannen» – in unserem Sprachgebrauch beschreiben viele Wendungen im Zusammenhang mit Ruhe etwas, was danach kommt, sozusagen als verdiente Belohnung nach getaner Pflicht. Im Gegensatz dazu beginnt das menschliche Leben im Schöpfungsbericht vor allem anderen mit Ruhen. Sjödin schreibt: «Am sechsten Tag, als alles andere geschaffen war, rief Gott den Menschen ins Leben. Dann machte Gott mit den Menschen einen Rundgang durch das Paradies, das er geschaffen hatte, nannte einige Spielregeln und sagte: ‹Und morgen früh, wenn ihr wach werdet, ist hier übrigens Feiertag.› Das sagte er zu zwei Wesen, die bis dahin noch keinen Finger gerührt hatten. Sie waren gerade erst angekommen. Verschlafen, splitternackt und nigelnagelneu standen sie da. Und das Erste, was sie ‹tun› sollten, war: ruhen. Man kann daraus zwei Schlüsse ziehen. Der eine ist theologisch: Bis der Mensch auf die Bühne tritt, ist das Meiste bereits erledigt. Er muss die Welt nicht (noch einmal) schaffen. Die Welt ist schon fertig. Der andere Schluss ist lebenspraktisch: Es ist klug, die Ruhe an die Stelle zu setzen, die ihr zugedacht ist: an die erste Stelle.»

Den Sabbat kennen lernen

Was in der Theorie durchaus einleuchten mag, ist im praktischen Leben alles andere als leicht umzusetzen. Wie können wir im hektischen Alltag die Ruhe bewahren? Sjödin rät zu Neugier, Offenheit und Wachsamkeit: «Im jüdischen Denken ist der Ruhetag eine Person, jemand, den man kennen lernen kann, mit dem man zu leben lernt. Der Sabbat ist nicht einfach ein freier Tag, er ist die Anwesenheit von etwas, das uns für alles empfänglich macht, was schön, nährend und wahr ist. Er ist eine Zeit, in der wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf das richten, von dem wir wollen, dass es unser Leben erfüllt. Eine Zeit, in der wir bewusst Nein sagen zu allem, was uns nur beschäftigt und von dem abhält, was wir eigentlich wollen.»

Wer den Sabbat erstmals oder neu für sich entdecken möchte, darf sich also auf den Weg machen, er darf sich auf eine Entdeckungsreise begeben, ausprobieren, verkosten, leben lernen. Ein Anfang könnte darin bestehen, bereits unter der Woche das Tempo zu drosseln. Nein zu sagen. Druck aus dem System zu nehmen. Bewusst zu atmen. Sich mitten am Tag für einige Minuten der Länge nach auszustrecken. Luft einzubauen zwischen Terminen. Ein paar Lücken hier und dort nämlich geben auch Gott die Chance, sich im Alltag bemerkbar zu machen und uns für Ruhezeiten zu begeistern: «Nicht mehr wollen als achtsam sein auf das Heilige zwischen Tür und Angel. Damit es einfällt, reicht eine Ritze.» (Ruth Näf Bernhard)

Ob es mir wohl gelungen ist, Appetit auf mehr Ruhe zu wecken? Das Wort «Appetit» kommt vom lateinischen ad petere. Es bedeutet: «nach etwas greifen, streben, verlangen, auf etwas zugehen, eine Richtung einschlagen», aber auch – spannend! – «Zuflucht suchen». Ich wünsche uns einen Richtungswechsel. Ich wünsche uns Appetit auf Aus- und Ruhezeiten.

Ausgewählte Literatur: