Auf dem Weg zur Einheit

Wie kann die Einheit der Christen gelingen, für die Jesus in Johannes 17 betet? Entscheidend sind nicht Fragen des Stils, sondern Jesus Christus. Wenn wir das Einssein mit Gott fördern, wächst auch die Einheit miteinander.

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Ich finde Toleranz anstrengend. Ich meine jetzt nicht die gesellschaftlich lauthals geforderte Toleranz allem und jedem gegenüber, die gleichbedeutend ist mit Gleichgültigkeit. Sondern echte, sich abgerungene Zustimmung zu einer Praxis, die mir nicht nur vollkommen fremd ist, sondern oft auch theologisch nicht einleuchtet.

Wie kann das funktionieren? Wie können wir «eins sein», wenn die Unterschiede so gross und scheinbar unüberbrückbar sind? Das ist die ganz grosse Frage, wenn es um Einheit geht. Johannes berichtet im 17. Kapitel, wie Jesus für die Einheit derer betet, die an ihn glauben:

«Doch nicht nur für diese hier [die Jünger] bitte ich, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben: dass sie alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, damit auch sie in uns seien, und so die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, so wie wir eins sind: ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt und sie geliebt hast, so wie du mich geliebt hast.»
(Neue Zürcher Übersetzung)

«Gott hat dir einen Verstand gegeben. Also brauche ihn. Und akzeptiere dann, dass es auch noch mal ganz anders sein kann. Also hör auf Dein Herz.» – So könnte man die Absicht des Johannes umschreiben, die er beim Abfassen seines Evangeliums verfolgte.

Auch bei unserem Text heisst es erst einmal, einen Handstand zu machen und dann das Herz in die Hand zu nehmen, wenn wir etwas verstehen wollen: «Meine gar nie, Gottes Grösse und die Grösse seines Christus irgendwie erfasst zu haben.» Wenn wir das annehmen können, können wir uns auch diesem grossartigen, geheimnisvollen, berührenden und ernüchternden Gebet zuwenden.

In dieser Ehrfurcht will ich mich ihm nähern. Jesus spricht von einer ganz speziellen Einheit. Es geht nicht wie bei global agierenden Konzernen um «merger and aquisitions» und es geht nicht um Ökumene. Es geht um das alles irgendwie auch, aber erst in zweiter Linie.

Zunächst heisst Einheit nach Jesu Worten, «in etwas zu sein». Einheit kommt also nicht aus einer gemeinsamen Praxis, sondern aus einem gemeinsamen Wesen, einer gemeinsamen Essenz, einem Stoff, der allen Christen eigen ist (hier müssten nun die Chemiker aus unseren Reihen mit geeigneten Bildern helfen!). Dieses gemeinsame Wesen entsteht da, wo Menschen sich mit Haut und Haaren Jesus zuwenden, und es zulassen, dass sie verwandelt werden.1

Christenmenschen, die in Gott sind

Paulus hat das, was Jesus betet, in einleuchtende Bilder gefasst. «Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur» (2. Korinther 5,172, kraftvoll übersetzt von Martin Luther). Auch wenn wir äusserlich die Alten bleiben, so sind wir innerlich zu neuen Geschöpfen geworden; eine Entwicklung ist in Gang gesetzt, die in der Ewigkeit erst mal noch eine Weile fortdauert (was auch ein Gedanke vom Paulus ist: 2. Korinther 4,163).

Jesus sagt nicht, dass erst eine Kirche mit einheitlichem Ritus entstehen müsse, damit die Welt ihn erkenne als Abgesandten Gottes. Sondern an Christenmenschen, die in Gott sind, wird die Welt Jesus erkennen. Wenn wir um die Einheit der Christen beten, so beten wir nach den Worten des Johannesevangeliums also darum, dass Christus in uns allen grösser werde und wir mit unseren Ambitionen, Ängsten und Engstirnigkeiten zurücktreten.

Wenn jede und jeder sich so auf Gott zubewegt, kommen wir uns automatisch auch als Brüder und Schwestern näher. Umgekehrt liegt der Schluss nahe, dass, wer sich sehr abgrenzt und sich andere vom Leib hält, möglicherweise auch ein Problem hat mit seiner Gottesbeziehung.

Diese einfache Tatsache lässt sich schön an einem gleichseitigen Dreieck illustrieren, in dem Gott, mein Mitmensch und ich selber je in einer Ecke stehen. Wenn sich mein Mitmensch und ich gleichzeitig zu Gott hinbewegen, kommen wir auch einander näher.4

Trennungen sind ein unverzeihlicher Luxus

Im Grunde genommen verbindet alle Kirchen der dringende Wunsch, das Gebet Jesu möchte endlich Wirklichkeit werden: Dass wir alle in Gott eins seien. Nicht nur beim sogenannten «morgenländischen Schisma» 1054 (bei dem sich die orthodoxe und die römisch-katholische Kirche trennten) oder anlässlich der Reformation, sondern auch bei der Gründung der anglikanischen Kirche oder bei der Abspaltung der Altkatholiken ging es letztlich um die Frage, wie der Weg hinein in dieses gemeinsame Wesen der Christen oder der Weg zu dieser Essenz einfacher, direkter, ballastfreier gestaltet werden könne. Dabei hat sich unterdessen auch die katholische Kirche, oder die allgemeine Kirche oder die Ur-Kirche, aus der alle anderen entstanden sind, weiter entwickelt.

Leider drängten und drängen sich haufenweise Nebensächlichkeiten dazwischen und vernebeln die Sicht auf das Ziel. Von all den anstrengenden und lästigen Themen sind die Fragen rund um die Macht die Hartnäckigsten. Vordergründig geht es um theologische Fragen. In Wirklichkeit geht es leider oft darum, wer das Sagen hat. Das ist sehr bedauerlich und es ist eine Schuld, die wir uns als Steine in grossen Haufen selbst in den Weg zur Einheit legen.

Dann geht es um Fragen der Identität. In langen Jahrhunderten haben sich Selbstverständlichkeiten gebildet, die niemand ohne Not abschaffen wollen sollte.

In der Not zusammenstehen

Bei all dem geht vergessen, dass, wo immer Christen in Bedrängnis sind, wo immer Christen in der Minderheit sind, Fragen nach der Praxis mit einem Mal unbedeutend werden. Das Gebot, in der Not zusammenstehen zu müssen, lässt das Verbindende in kräftigen Konturen hervortreten. Das Trennende ist zwar da, wird aber unkompliziert so organisiert, dass alle mitmachen können. Das berichteten mir jedenfalls alle Christen, die ich je getroffen habe und die eine Zeit ihres Lebens gemeinsam mit Christen anderer Denominationen in einer fremden Kultur gearbeitet haben.

Die letzten Christen in Aleppo finden Fragen, die das rechte Abendmahlsverständnis betreffen, ziemlich unnötig. Einheit in Christus ist möglich, sobald es notwendig wird, dass die Hauptsache die Hauptsache bleibt. Wenn wir diese einleuchtende Tatsache auf unsere Verhältnisse in der Schweiz anwenden, müssen wir uns die Frage gefallen lassen, wie gross die Not denn noch werden muss, damit wir endlich mit den Grabenkämpfen und Abgrenzereien aufhören.

Die entscheidende Frage

Nachdem ich das Thema nun theoretisch etwas beleuchtet habe, will ich mich der eigenen Nase zuwenden. Wie heisst es so schön? «Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt dabei mit drei Fingern auf sich selbst.» Es ist sehr einfach, eine allgemeine Rückbesinnung auf die Hauptsache – Christus! – zu fordern, wenn man selbst mit Windmühlen kämpft.

Dazu will ich aus dem Nähkästchen plaudern. Ich bin Pfarrer. Ich habe gelernt, dass ein Gottesdienst einen Anfang und einen Schluss haben muss, den die Zuhörer einfach als solchen erkennen. Ich habe ausserdem gelernt, dass dieser Anfang und dieser Schluss Gott gehören. Es heisst ja eben Gottesdienst. Gottesdienst ist eine Feier und sollte etwas feierlich sein. Dazu gehört, dass ich meine Schuhe putze. Das hat etwas mit Respekt zu tun. Schliesslich erwarten wir den König aller Könige!I

ch komme dann zum Beispiel an meine Grenzen, wenn ich in einen Gottesdienst gerate, in dem der Leiter kurzhosig auf die Bühne hüpft und dann mehrminütigen, unvorbereiteten Schwachsinn von sich gibt. Da wird meine Toleranz arg strapaziert. Ich frage mich: Ist dieser Kerl einfach schlecht erzogen?

Dann muss ich in mich gehen und mir sagen: «Mach mal halblang. Du störst dich an Stilfragen. Es ist für Gott kein Problem, durch diese Feier, die keine Feier ist, sondern irgendetwas Anderes, was dir jetzt halt grad nicht so passt, zu dir zu sprechen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob der Gitarrist vergessen hat, den Kaugummi rauszunehmen. Sondern ob es um Gott geht und um sein Reich.»

Das Gebet von Jesus geht mitten durch uns hindurch. Es stellt meine Vorlieben in Frage und meine Prioritäten. Es fragt mich, ob ich es akzeptieren kann, wenn wie bei dem beschriebenen Gottesdienst ein paar Leute eine gute Zeit mit Gott haben, während ich danebensitze und es nicht schaffe, anzudocken, weil die Lieder, der Stil, die Gebete zu fremd sind. Es stellt die Frage, ob ich Gott zu-traue, dass er durch eine extrem hochkirchliche Feier, wie zum Beispiel die Trauung von William und Kate, die 2011 in der Westminster Abbey stattfand, zu den Menschen spricht.

Das Gebet von Jesus ruft mich heraus aus meiner Komfortzone, in der alles schön «büschelet» ist, so dass es mir passt. Ob es mir passt, ist leider kein sehr entscheidendes Kriterium. Es wird bloss in unserer Zeit gnadenlos überbewertet. Es geht einzig und allein darum, ob mit dem, was Christen tun, das Einssein mit Gott gefördert wird. Weil, wenn das Einssein gefördert wird, die Einheit unter den verschiedenen Christen von alleine kommt. Ob sie dann Katholiken oder Protestanten, ICF-ler oder Lutheraner sind, ob sie aus der FEG kommen oder von den Methodisten, spielt gar keine Rolle mehr.

Die Einheit kommt von selbst, wo die Hauptsache die Hauptsache ist