Gehört der Glaube an die Schule?

Rico Bossard plädiert für eine Bildung, in der Religion kein Tabu ist.

Seit über fünf Jahren setzt sich Rico Bossard als Leiter des VBG-Fachkreises Pädagogik für eine christlich motivierte Pädagogik ein. Dabei bewegt er sich zwischen zwei Fronten: Auf der einen Seite verärgert er Säkularisten, für die Religion im Schulkontext nichts verloren hat. Doch auch von christlicher Seite erntet er Kritik, weil er das Klassenzimmer nicht als Evangelisationsfeld verstanden haben möchte.

Rico, du arbeitest als Schulleiter und christlicher Pädagoge, daneben bist du Familienvater. Wie erlebst du die Schule aus dieser privaten Perspektive?

Meine Tochter hat in der Schule schon von biblischen Geschichten geschwärmt oder Kameradinnen gefragt, ob sie an Gott glauben oder nicht. Ich weiss nicht, wie ihre Lehrperson solche Dinge aufnimmt. Das verunsichert mich. Zwischen den Zeilen kann ich ungefähr herauslesen, welche Vorstellungen und weltanschaulichen Überzeugungen für die Lehrperson wichtig sind, aber es fand noch kein offenes Gespräch zu diesem Thema statt. Das vermisse ich.

Die Diskussion um Religion im Schulkontext ist emotional sehr aufgeladen. Weshalb?

Die Menschen sind es nicht mehr gewohnt, über Religion zu sprechen und nachzudenken. Deshalb fehlt ihnen manchmal der rechte Ton – gerade auch, weil der Glaube etwas sehr Persönliches ist, das sich nicht so leicht in Worte fassen lässt. Dazu kommt, dass Eltern im Bildungssystem selten als gleichwertige Partner eingebunden werden. Es wäre schön, wenn sich hier eine mehr auf Ergänzung angelegte Arbeitsweise durchsetzen würde.

Du bist überzeugter Christ und lehnst trotzdem Evangelisation im Unterrichtskontext ab.

Es kommt darauf an, was wir mit «Evangelisation» meinen. Als Lehrperson ist es nicht meine Aufgabe, Schülerinnen und Schüler zu einem Leben mit Jesus Christus einzuladen oder ihnen die Bibel «lieb zu machen». Der Lehrplan ist in dieser Hinsicht sehr klar. Ich kann aber dazu beitragen, den Kindern und Jugendlichen ein Gespür für die tieferen Fragen des Lebens zu eröffnen.

Es ist meine Aufgabe, ihnen das Gespräch und den Dialog über solche Themen «lieb zu machen». Religiöse Bildung hilft, bei Kindern ein Grundvertrauen zu etablieren. Das ist für die Persönlichkeitsentwicklung sehr wichtig. Was den christlichen Glauben angeht: Da vertraue ich darauf, dass Gott unabhängig von äusseren Umständen Menschen rufen und gewinnen kann.

Dann gibt es also keinen spezifischen Auftrag für christliche Lehrpersonen?

Doch, auf jeden Fall! Es ist wie beim Musikunterricht: Um den musikalischen Sinn der Schülerinnen und Schüler zu fördern, sind Lehrpersonen geeignet, die selber ein Ohr für Musik haben. Das Gleiche gilt für das Vermitteln von religiösen und weltanschaulichen Themen: Christliche Lehrpersonen haben einen direkteren Bezug dazu und können diese deshalb viel besser vermitteln.

Das merken auch die anderen Lehrpersonen. Kürzlich kam mein Stellenpartner auf mich zu und fragte mich, ob ich im neuen Schuljahr bei unserer Klasse den Bereich Ethik, Religionen, Gemeinschaften übernehmen könne – ich hätte da einen direkteren Zugang als er. Eine solche Offenheit wünsche ich mir an allen Schulen.

Was sagst du jenen christlichen Lehr­personen, denen das zu wenig ist?

Ich finde das nicht wenig, im Gegenteil! Wir haben die Aufgabe, im Kontext der Bildung dafür zu sorgen, dass junge Menschen über die grossen Fragen des Lebens nachdenken und darüber sprechen können – mit Respekt und Achtung vor verschiedenen Positionen. Das ist ein hohes Ziel – gerade in einer Gesellschaft, die Religion und Glaube in der Regel als Privatsache betrachtet!

Wir stehen bei diesen Themen an einer Schwelle. Werden wir es schaffen, dass auch die zukünftige Generation eine Sprache und ein Sensorium für weltanschauliche und religiöse Fragen hat? Da sind wir als christliche Lehrpersonen gefordert, weil wir selber starke persönliche Überzeugungen und konkrete Glaubenserfahrungen mitbringen. Ohne zu evangelisieren, ist es unser Auftrag aufzuzeigen, dass diese Auseinandersetzung für alle Menschen wichtig ist, nicht nur für ein paar wenige «Gläubige».

Und wenn eine muslimische Lehrperson den Schülerinnen und Schülern den Islam näher bringen möchte?

Es ist ein verbindlicher Auftrag des Lehrplans, dass alle Lehrpersonen vom Islam ebenso wie von Jesus und anderen religiösen Inhalten berichten – ob sie nun selber Christinnen, Muslime oder sonst etwas sind. Für alle gilt, dass sie nicht den Auftrag haben, die Kinder zu überzeugen, sondern ihr religiöses Gehör zu schulen.

Wenn meine Tochter eine muslimische Lehrperson hätte, wäre das für mich nicht weiter schlimm. Ich würde aber erwarten, dass die Lehrperson sich ihres Standpunktes bewusst ist und ihn gegenüber uns Eltern transparent machen könnte. Wenn das der Fall wäre, könnte ich auch mal eine glaubensmässig sehr motivierte muslimische Aussage im Unterricht mit meiner Tochter gut aufgreifen und erklären.

Regionaltreffen der VBG für christliche Lehrpersonen und PH-Studierende
Regionaltreffen der VBG für christliche Lehrpersonen und PH-Studierende
Du hast ein grosses Vertrauen in den Lehrplan und die Kompetenzen der Lehrpersonen!

Ich freue mich am Lehrplan 21 und an der darin festgehaltenen Überzeugung, dass der Dialog über Glaubensfragen zu unserer Gesellschaft gehört. Diese Formulierungen sind auch dadurch zustande gekommen, dass sich gläubige Menschen bei der Erarbeitung des Lehrplans gemeinsam dafür eingesetzt haben. Es sollte daher selbstverständlich sein, dass sich alle Lehrpersonen an die an diesen Kompetenzen orientieren.

Überlässt man damit die religiöse Erziehung der Kinder dem Staat?

Nein, im Gegenteil. Es ist an den Eltern, ihre Kinder in Fragen der Religion zu leiten. Das hält die UNO-Kinderrechtskonvention fest. Den Kindern steht jedoch die gleiche Glaubens- und Gewissensfreiheit zu wie Erwachsenen. Wenn unsere Tochter von der Schule erzählt, gibt uns das die Möglichkeit, mit ihr über Aussagen der Lehrperson nachzudenken – besonders dort, wo es um religiöse und weltanschauliche Themen geht. Ich kann diese Themen aufgreifen und mit meiner Tochter darüber sprechen, welche Überzeugungen uns als Familie leiten. Aber eben nur dann, wenn ich weiss, wie die Schule und eine spezifische Lehrperson diese Themen bearbeitet.

Sollte das Kind punkto Religion nicht frei entscheiden können?

Es gibt Eltern, die versuchen, ihr Kind möglichst ohne religiöse Prägungen aufwachsen zu lassen, «damit es später frei entscheiden kann». Doch wie frei ist diese Entscheidung des Kindes tatsächlich? Um kompetent zu entscheiden, braucht man Grundlagen. Das ist bei einem Kind wie bei einem Erwachsenen und bei Religion wie bei jeder anderen Sache.

«Religiöse Erziehung kann nicht einfach als Prägungsvorgang begriffen werden, sondern muss zugleich auf die eigene Entscheidungsfähigkeit des Kindes hinzielen», schreibt der Theologe und Religionspädagoge Friedrich Schweitzer in seinem wichtigen Buch «Das Recht des Kindes auf Religion». Religiöse Prägungen bieten die Erfahrungsgrundlage für eine spätere, eigenständige Entscheidung. Ohne diese Kenntnisse wäre das Kind in seiner Wahl stark eingeschränkt. Und genau darum geht es in den vom Lehrplan 21 beschriebenen Kompetenzen.

Der Staat mischt bei der Religion also doch nicht mit?

Die Aufgabe des Staates liegt darin, einen Raum zu schaffen, an dem offen über Glaubens- und Gewissensfragen gesprochen und nachgedacht werden darf. Das ist es, was mit religiöser Neutralität gemeint ist. Mit dem Lehrplan 21 hat die Schweizer Stimmbevölkerung klargestellt, dass Kinder und Jugendliche in der Schule religiösen Traditionen und Vorstellungen begegnen sollen und dort lernen, mit weltanschaulicher Vielfalt und kulturellem Erbe respektvoll und selbstbewusst umzugehen. So lautet die Zielsetzung für den Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft. Dahinter steckt die Absicht, ein friedliches und respektvolles Zusammenleben weiterhin ermöglichen zu können und die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu wahren.

Religiöse Neutralität ist also kein «Religionsverbot»?

Religiöse Neutralität bedeutet nicht eine Verbannung oder ein Totschweigen der Religion, sondern – ähnlich wie bei der politischen Neutralität – das Abstecken eines Raums, in dem keine Religion oder Weltanschauung bevorzugt wird. In der Schule bedeutet dies zum Beispiel, dass Lehrpersonen ihren eigenen Standpunkt kennen und abschätzen können, wie dieser Standpunkt ihr Handeln beeinflusst. Dieses persönliche Rollenverständnis sollte jede professionell handelnde Lehrperson ihren Vorgesetzten oder auch den Eltern kommunizieren können, zum Beispiel im Rahmen des Elternabends.

Es muss uns bewusst sein, dass Kinder ein grundsätzliches Interesse an den grossen Fragen des Lebens haben und deshalb auch nach Hause tragen, was sie in der Schule aufschnappen. Wenn die Eltern wissen, wie die Schule und die Lehrperson diese Dinge bearbeiten, dann können sie ihre Verantwortung übernehmen und ihr Kind in diesen Fragen leiten. So lassen sich auch Konflikte zwischen den Inhalten des Unterrichts und der Prägung und Tradition des Elternhauses auffangen. Da wir es heute etwas verlernt haben, über diese Themen in einem achtungsvollen Dialog zu stehen, müssen wir ihnen besondere Aufmerksamkeit schenken.

Dafür setzt du dich ein.

Die religiöse Sprachfähigkeit ist ein wichtiges Ziel für den Fachkreis Pädagogik der VBG. Unsere Regionaltreffen geben christlichen Lehrpersonen und PH-Studierenden einen sicheren Rahmen, um über den eigenen Glauben nachzudenken und dessen Einfluss auf das pädagogische Handeln zu reflektieren. Ein zweites Standbein ist die pädagogische Kurswoche, die immer im Herbst stattfindet. Dort geht es um die rechtlichen Rahmenbedingungen und ein Grundverständnis davon, was religiöse Bildung bedeutet.

Ab diesem Sommer bieten wir neu einen Workshop an, der Lehrpersonen aller Weltanschauungen offensteht. Während ein bis zwei Tagen erarbeiten wir ein persönliches Unterrichtskonzept, das die eigenen Überzeugungen benennt und deren Einfluss auf das pädagogische Handeln aufzeigt.

Rico Bossard ist Primarlehrer und Leiter des VBG-Fachkreises Pädagogik. Die Fragen stellte Jonas Bärtschi.