Bibellesen mit Herz und Verstand

Wer die Bibel liest, braucht Verstand. Wer zulassen möchte, dass die Bibel ins Leben hineinspricht, braucht ein offenes Herz. Diese zwei Schlüssel zur Lektüre biblischer Texte sind aber keine Gegensätze. Sie ergänzen sich gegenseitig.

Ich erinnere mich noch gut an den prüfenden und eindringlichen Blick von Mona Lisa, als ich ihr zum ersten Mal in Paris begegnete. Ein Kunsthistoriker erklärte mir später, dass gerade dieser Blick dem kleinen Gemälde Weltberühmtheit und zeitlose Wirkung verliehen hat. Von wo auch immer und egal aus welchem Winkel ich diese Frau im Museum Louvre betrachte, Mona Lisa lächelt mich an und schenkt mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit trotz den vielen anderen Touristen, die neben mir stehen. Sie stellt meine Welt auf den Kopf: Ich betrachte nicht nur das Kunstgemälde, sondern das Kunstgemälde betrachtet auch mich. Unsere Blicke begegnen sich in einem Tanz gegenseitiger Aufmerksamkeit. Je länger ich Mona Lisa betrachte, desto mehr wird sie mir lebendig.

Die Bibel liest uns

Genau diesen Tanz beobachtete der dänische Philosoph Kierkegaard auch beim Lesen der Bibel. Entweder lesen wir die Bibel, oder wir lassen uns von der Bibel lesen und herausfordern. Für Kierkegaard offenbart unsere jeweilige Interpretation und Deutung der Bibel mehr über uns und den Zeitgeist unserer Epoche, als über die Bibel selbst. Ein Bibelkommentar einer früheren Epoche ist eine direkte Brücke zu den damaligen gesellschaftlichen Vorurteilen und kulturellen Eigenheiten. Die Bibelkritik eines Professors sagt mehr aus über seinen methodologischen Ansatz und seine philosophische Prägung, als über die Heilige Schrift.

Eine ähnliche Tendenz konnte ich bei den mehr als 40 Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Medien, Politik und Wissenschaft beobachten, die für das VBG-Projekt «reformare» beschrieben, was sie an der Bibel fasziniert. In seinem seinem Video-Interview zeigt sich Werner de Schepper, Co-Chefredaktor der «Schweizer Illustrierten», begeistert über die Nähe der biblischen Texte zum Alltag, etwa in der Geschichte des verlorenen Sohnes. Lauriane Sallin, die amtierende Miss Schweiz, sieht in der Fusswaschung von Jesus den Beginn einer neuen Weltordnung, in deren Zentrum die Liebe steht. Eric Nussbaumer, SP-Nationalrat aus Baselland, betrachtet die Bibel als eine «Ressource erneuerbarer Energie, die es immer wieder zu entdecken gilt». Markus Müller, Rechtsprofessor an der Universität Bern, findet die erfrischende und ehrliche Radikalität von Jesus eine willkommene Alternative zu faulen opportunistischen und politischen Kompromissen.

Im besten Fall sehen wir in der Bibel nicht nur das Abbild unserer Wunschvorstellungen und festgefahrenen Denkweisen, sondern uns selbst. Doch Selbsterkenntnis setzt nach Calvin Gotteserkenntnis voraus. Darum ist es wichtig, die Bibel offenherzig und neugierig zu lesen, bis sich der Leseprozess auf den Kopf stellt – bis ich in der Bibel nicht mehr meine eigenen Gedanken und Projektionen sehe, sondern einen tiefen Blick in meine Seele erhalte.

Das Bild des Spiegels ist hilfreich. Ich kann mir Bauart, Glas, Rahmen, Schliff und Kratzer des Spiegels ansehen, ohne mich selbst darin zu beobachten. Genau so kann ich Bauart, Literaturstil, Zusammenhang, Sprache und Entstehungsgeschichte der Bibel betrachten, ohne mich selbst im Buch der Bücher zu sehen. Ich kann mich aber auf den Spiegel einlassen, um zu wissen, wie das Haar zu kämmen und die Krawatte zu richten ist – und auf die Bibel, um meine Charakterschwächen zu sehen und bei Gott Hilfe zu suchen und Gnade zu empfangen. Ich betrachte mich im Spiegel und in der Bibel, um mich so zu sehen, wie ich wirklich bin.

Die Bibel liest unsere Kultur

Die Bibel als Spiegel unserer Seele und des menschlichen Daseins hat nicht nur die inneren Hautunreinheiten und Pickel von Kierkegaard und Calvin ans Licht gebracht, sondern ganze Kulturen gelesen. Gerade der Westen, Europa und die Schweiz sind allesamt von der Bibel durchleuchtet. Die Reformation ist einer dieser Momente, in dem sich Kirche und Gesellschaft einer gründlichen Gesichtswäsche stellten und von der Bibel gelesen wurden. Wenn die Bibel eine Kultur liest, werden deren Geschichte und Werte tiefgehend vom Buch der Bücher geprägt.

2017 steht als Jubiläumsjahr für 500 Jahre Reformation und für eine Entwicklung, in der Impulse aus der Bibel zu grossen Veränderungen im Bildungswesen, in der Trennung von Staat und Religion, im Verständnis des menschlichen Gewissens und in der Auffassung der Freiheit führten. Wie ein musikalisches Echo hallen diese Entwicklungen bis heute kräftig nach. Wenn die Bibel unsere Kultur liest, wird unsere Gesellschaft nachhaltig geprägt und herausgefordert.

Aufgrund dieses nachhaltigen kulturgeschichtlichen Einflusses bezeichnet das deutsche Magazin «Der Spiegel» die Bibel als das mächtigste Buch der Welt. An Superlativen fehlt es nicht: Das Neue Testament wurde bereits in 1442 Sprachen übersetzt, und in über 636 Sprachen ist die Bibel komplett erhältlich. Das weltweit meist verbreitete Buch hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung vieler Sprachen: Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch und Deutsch. In der Literatur bleibt die Bibel mit ihrer einprägsamen Sprache, ihrer facettenreichen Figurenwelt und ihren aufrüttelnden Geschichten eine der wichtigsten Inspirationsquellen. Berthold Brecht antwortete auf die Frage, welches Buch ihn am meisten beeinflusst hätte, überraschend und unmissverständlich: «Sie werden lachen, die Bibel.» In der Geschichte der Ideen kann man die Bibel als konstanten Dialogpartner der Philosophen betrachten, die sich an ihr die Zähne ausgebissen haben.

Es gibt grundsätzlich zwei Arten, sich Mona Lisa, dem Spiegel und der Bibel zu nähern: Wir können alle drei Objekte als neutrale, wissenschaftliche und distanzierte Beobachter betrachten. Wenn wir aber nach einiger Zeit den Blick auf uns spüren und uns in den Bann ziehen lassen, dann finden wir uns mitten in einem entscheidenden Rollenwechsel: Wir werden von Beobachtern zu Beobachteten. Beide Herangehensweisen sind berechtigt und bringen auf kreative Art und Weise zwei Pole zusammen: objektiv und subjektiv, öffentlich und persönlich, wissenschaftlich und glaubensbedingt. Einige finden über einen intellektuellen Zugang zur Bibel zu einem persönlichen Glauben an Gott. Andere sind interessiert, nach einer persönlichen Gotteserfahrung die Glaubwürdigkeit der biblischen Texte aus geschichtlicher und philosophischer Sichtweise zu untersuchen. Beide Blickrichtungen sind Lektüreschlüssel, die uns die Bibel auf fruchtbare Weise öffnen.

Die wahre Mona Lisa

In Jesus Christus begegnet uns aus der Bibel heraus ein persönlicher Gott als echtes Gegenüber. Wie das Louvre die Mona Lisa als Hauptfigur vorstellt, so richtet sich die Aufmerksamkeit des Alten und Neuen Testaments auf Jesus als Mittelpunkt der Menschheitsgeschichte. Wer an einen persönlichen Gott glaubt, ist bereit, sich auf ein Gegenüber einzulassen, das uns widersprechen kann und darf. Beziehung setzt Gegensätzlichkeit, Vielfalt und Konflikt voraus. Ein persönlicher Gott nimmt sich unser wirklich an, fordert uns aber heraus, lädt uns ein zum Tanz der Liebe und gegebenenfalls zur kritischen Selbstbetrachtung. «Ich rege mich immer wieder mal über ihn auf», sagt Gottfried Locher, Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, über Jesus. «Er hat die Menschen gewiss nicht absichtlich verletzt, aber er hat sie aus ihrer schläfrigen Gleichgültigkeit ziemlich unsanft wachgerüttelt.» Jesus, der willkommene Störenfried, deckte die Fehler der Menschen gnadenlos auf. Er war und ist die perfekte Mona Lisa der Menschheitsgeschichte, die uns nie aus ihrem liebenden Blick lässt. Vom kritischen Betrachter der Bibel werden wir in Jesus zu liebevoll Betrachteten der Bibel.

500 Jahre Reformation stellt für alle eine Gelegenheit dar, den entscheidenden Einfluss der Bibel kritisch in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Es ist eine Welle, auf der wir alle surfen dürfen. Die Wetterbedingungen am Strand sind ideal. In ganz Europa findet eine Debatte und kritische Rückbesinnung auf jüdisch-christliche Werte statt. Gerade in diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Bibel wieder neugierig zu lesen. Es geht um die Kunst, die Bibel mit Fragen zu öffnen und nicht mit vorgefertigten und engstirnigen Antworten zu schliessen. Wer meint, er habe bereits alle Antworten, wird sich nicht fragend mit diesem Buch befassen. Jesus aber setzt voraus, dass nur Suchende finden können (Matthäus 7,8): «Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet.»

Paulus, selbst höchst vertraut in den Labyrinthen der jüdischen Schriften, beschreibt die Lektüre von Gottes Wort als ständigen Lernprozess, ja als Berufungslehre, die all unsere Lebensjahre wie kleine Regentropfen aneinander reiht: «Die Erkenntnis macht aufgeblasen, die Liebe dagegen baut auf. Wenn einer meint, er sei zur Erkenntnis gelangt, hat er noch nicht so erkannt, wie man erkennen muss. Wer aber Gott liebt, der ist von ihm erkannt worden» (1. Korinther 8,1 – 3).

Die Gegenüberstellung von Wissen und Liebe erinnert uns vielleicht daran, dass Birnen nicht mit Äpfeln verglichen werden sollten. Gerade diese Kombination aber lässt nicht nur manche Herzen beim Verzehr eines Birchermüslis höher schlagen, sondern auch das theologische Herz von Paulus. Für ihn sind Liebe – unsere Herzenseinstellung – und theologische Kenntnis – die Erkenntnis von Gott – miteinander gekoppelt. Er bringt das menschliche Herz als Zentrum des Willens und Quelle aller Emotionen mit dem kühlen Verstand in Verbindung. Was das Herz will, das bestätigt und rechtfertigt der Verstand.

Diese Grundüberzeugung bringt uns zurück zu den zwei Lektüreschlüsseln: Wir können die Bibel lesen und brauchen dafür unseren Verstand. Und wir können uns von der Bibel lesen lassen und brauchen dafür ein offenes Herz. 500 Jahre Reformation sind eine einmalige Einladung, sich der Bibel zu öffnen und sie zu lesen. Mit Kopf und Herz. Als Betrachter und Betrachtete.


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