Leonie Walder arbeitet als Lehrerin und Radioredakteurin
Liebe Leonie, du bist bald fertig mit deinem Germanistikstudium mit Philosophie im Nebenfach. Was hat dich daran besonders interessiert?
Bücher. Weil Bücher es ermöglichen, in ein völlig fremdes Leben hineinzuschauen. Sowohl geografisch als auch zeitlich kann uns eine Geschichte an einen ganz anderen Ort mitnehmen! Bücher bringen einem Empathie bei.
Was meinst du damit?
Plötzlich findet man etwas nachvollziehbar – eine Handlung oder einen Charakterzug –, weil man einer Figur so nahekommt. Das geht oft einfacher als in normalen Begegnungen, weil man in Büchern viel mehr über die Gedanken und das Innenleben der Figuren erfährt.
Würdest du sagen, dass das Studium dich gut auf deine Zukunft vorbereitet hat?
Naja, mal besser, mal weniger gut (lacht). Fürs Berufliche habe ich zusätzlich Didaktik und Pädagogik belegt; das Studium selbst war nicht sehr praxisnah, es hat viel eher meine Gedanken geprägt. Germanistik hat mir gezeigt, wie man mit einem Text umgeht, was Sprache alles kann und natürlich habe ich auch selbst schreiben gelernt. Philosophie hat mich gelehrt, wie man argumentiert, Logik anwendet, wie man zuhört. Grundsätzlich lernt man auch, sich selbst zu organisieren und Prioritäten zu setzen.
Und jetzt arbeitest du als Lehrerin am Gymnasium und als Radioredakteurin im ERF, einem christlichen Radiosender.Wie bist du dazu gekommen?
Das habe ich mir sehr aktiv überlegt. Gegen Ende meines Studiums habe ich gemerkt, dass es mir wichtig ist, etwas zu tun, was nicht nur mir etwas bringt. Ich wollte schon lange Lehrerin werden, aber dann habe ich das noch einmal hinterfragt. Werde ich ein Gewinn für meine Schülerinnen und Schüler sein? Ich wollte nicht bloss Lehrerin werden, weil ich das toll finde, während meine Schüler unter mir leiden. Ich wollte nicht nur mich selbst verwirklichen, das wäre zu wenig gewesen. Ich glaube nicht, dass das unser Auftrag ist.
Was ist denn unser Auftrag?
Ich denke, den Menschen zu dienen. Wer in der Schweiz einen Uni-Abschluss hat, hat oft viele Freiheiten, was die Berufswahl angeht. Mit dieser Freiheit kommt eine Verantwortung. Ich habe versucht, diese Verantwortung wahrzunehmen, indem ich mir überlegte, ob es sinnvoll ist, was ich mache.
Was ist das Sinnstiftende an deinen Berufen?
Im Lehrerinnenberuf ist die Sinnfrage eigentlich schnell geklärt: Der Jugend etwas beibringen ist in den meisten Fällen sinnvoll. Im Radio ist unser Kerngeschäft, über Gott und die Welt zu berichten und dabei Hoffnung in die Welt zu bringen. Das finde ich sehr sinnvoll.
Wie bringt ihr denn Hoffnung in die Welt?
Wir legen den Fokus darauf, immer wieder ermutigende Geschichten zu bringen. Wenn wir über Sachen sprechen, die schwer sind – was wir bewusst tun, weil wir kein verfälschtes Bild vom Leben zeigen wollen –, möchten wir gleichzeitig aufzeigen, wo noch Hoffnung ist, oder es einen Lösungsansatz gibt. Wenn wir zum Beispiel über Einsamkeit sprechen, möchten wir auch aufzeigen, wie man aus der Einsamkeit herauskommen kann.
Gibt es auch Dinge, die dir an deiner Arbeit schwerfallen?
Gerade in der Schule gibt es verschiedene Ansprüche, denen man gerecht werden muss. Ich möchte ja, dass die Schüler Freude daran haben, was sie machen, aber auch, dass sie etwas lernen – was durchaus nicht immer das Gleiche ist (lacht). Zudem hat man in einer Klasse sehr viele unterschiedliche Individuen, die einen wollen dieses, andere jenes. Und am Ende des Tages habe ich gar nicht so viele Lektionen mit meinen Klassen. Ich würde sie vielleicht manchmal gerne mehr prägen können, ihnen noch mehr begegnen.
Wie erlebst du es, in der Beziehung mit deinen Schülerinnen und Schülern die persönlichen Grenzen zu wahren?
Gute Frage. Der Zugang in der Jugendarbeit ist nicht vergleichbar: Da kann ich mit ihnen
beten, aus meinem Leben erzählen. Das ist wertvoll. Im Gymi bin ich ihre Lehrerin, das heisst, ich bin auch die, die ihnen Noten geben muss. Die Mischung aus Fördern und Bewerten ist nicht immer einfach. Zudem kann und will ich im Schulsetting weniger von mir teilen, weil ich eine gewisse Autorität wahren muss.
Welche Rolle spielt der Glaube bei deiner Arbeit?
Beim Radio ist es offensichtlich: Wir sind ein christliches Radio und ich arbeite da, weil ich glaube, dass es die bestmögliche Nachricht ist, über die wir sprechen. In der Schule ist es subtiler. Dort will ich die Menschen sehen, die im Klassenzimmer sitzen und erstmal spüren, wie es ihnen geht. Besonders wichtig ist mir, sie zum Denken anzuregen. Ich möchte ihnen helfen, Meinungen zu bilden und herauszufinden, was sie glauben und welche Werte ihnen wichtig sind.
Wieso ist das ein christliches Anliegen, den Schülerinnen zu helfen, selber zu denken?
Das ist ein reformatorischer Gedanke, Menschen dazu zu befähigen und anzuregen, selbst zu denken und nachzuforschen. Jeder Mensch zählt einzeln, es geht nicht darum, einfach jemandem etwas nachzureden.
Wie hast du das denn gelernt?
Unter anderem in der VBG!
Stimmt, deine VBG-Karriere ist ja recht beeindruckend.
Die VBG begleitet mich tatsächlich schon sehr lange. Wir sind früher als Familie oft nach Moscia in die Ferien gefahren. Im Gymnasium war ich Teil der Bibelgruppe und am ersten Dienstag meines ersten Studiensemesters bin in die VBG gegangen – ab da stand dieser Dienstag fix in meiner Agenda. Nachdem ich von meinem Austausch in Berlin
zurückgekommen bin, bin ich sogar in eine VBG-WG gezogen.
Was hat dir an der VBG gefallen?
Im Gymi war die Bibelgruppe sehr wichtig für mich, weil man zu dieser Zeit begonnen hat, die Glaubenssätze der Eltern zu hinterfragen. Kann das wirklich sein? Wie ist das mit diesen biblischen Geschichten?
Und an der Uni?
Da hat sich das dem Alter entsprechend weiterentwickelt. Man ging neue Schritte, um herauszufinden: Wer bin ich? Wir haben stundenlang diskutiert! Beim Essen, nach den Inputs, wir waren ständig im Austausch. Das war besonders spannend, weil jeweils so unterschiedliche Menschen zusammengekommen sind und man ökumenisch unterwegs war.
War es das, was dich in der VBG am meisten geprägt hat, reflektiert glauben und Vielfalt?
Ja – und die vielen Freundschaften. Ich habe so viele gute Freundinnen und Freunde aus dieser Zeit!
Woran liegt das?
Vieles ist der Regelmässigkeit zu verdanken – man hat sich häufig und konstant gesehen. Das war besonders an der Uni sehr wertvoll, wo sich die Zusammenstellung der Leute, die man in den Seminaren trifft, jedes Semester wieder stark veränderte.
Gibt es auch etwas, was du an der VBG kritisch gesehen hast?
Wir liefen Gefahr, verkopft zu sein. Am Anfang hat es auch ab und zu geheissen, es sei nicht so einfach, von aussen in die VBG hineinzukommen. Es konnte schon vorkommen, dass man sich vor allem freute, die eigenen Freunde wiederzusehen – und dann jemanden, der zum ersten Mal da war, übersehen hat. Deshalb haben wir dann das Welcome-Team gegründet.
Damit sicher alle begrüsst werden.
Genau. Das Welcome-Team gab auch Informationen zu kommenden Veranstaltungen weiter und fragte: Willst du dich vernetzen, was würde dich interessieren? Ich war da immer mal wieder dabei und habe das Team auch für ein, zwei Semester geleitet.
Wie schwierig war es für dich, mit der VBG aufzuhören?
Was soll ich sagen: Corona hat es möglich gemacht. Es war ein schleichender Ausstieg während der Zeit, da es nur Onlineveranstaltungen geben konnte – wobei, ganz ausgestiegen bin ich bis heute nicht! Ich besuche immer noch punktuell Veranstaltungen der VBG, zum Beispiel die Traugespräche. Aber mit dem Ende des Studiums in Sicht war es eine natürliche Entwicklung, mit den VBG-Dienstagabenden langsam abzuschliessen. Viele meiner Freunde waren in derselben Situation. Wenn ich heute die VBG besuche, merke ich auch, wie die Fragen, die gestellt werden, nicht mehr meine sind.
Du bist also herausgewachsen?
Jein – aus den Dienstagabendveranstaltungen schon. Ich muss weniger oft grundsätzliche Fragen klären, weil sich vieles schon geklärt hat, und mein Glauben gefestigt ist. Aber ansonsten begleitet mich die VBG noch weiter – natürlich, hoffentlich bin ich ja immer noch im Prozess! Wenn auch langsamer und stetiger.
Welche Rolle spielt der Glaube jetzt konkret in deinem Leben?
Das Christsein prägt mein Denken. Viele grosse und kleine Entscheidungen fälle ich auf dieser Grundlage: Weil ich an Gott glaube, möchte ich Zeit mit ihm verbringen und über die Bibel im Austausch sein. Der Sonntagmorgengottesdienst und meine Kleingruppe haben für mich Priorität. Auch meine Moral ist geprägt vom Christentum: Ich bin immer wieder darum bemüht, meine Nächsten zu lieben und Gnade walten zu lassen in meinem Denken. Eine grosse Ressource ist
dabei die Hoffnung, die mir mein Glaube schenkt und die Sicherheit, dass man nie tiefer fallen kann als in Gottes Hand.
Ist es manchmal auch schwierig, Christin zu sein?
Es geht (lacht). Vieles von dem, was Jesus sagt, ist so sinnvoll und lebensbejahend. Die Bibel verstehe ich nicht als einschränkend, vielmehr hilft sie uns dabei, unser Zusammenleben besser zu gestalten. Ich möchte auch alle dazu ermutigen, nachzufragen: Warum feiern wir Gottesdienst? Warum sollen wir nicht lügen? Ich bin nämlich davon überzeugt, dass der christliche Glaube diese Fragen erträgt und dass man dadurch seinen eigenen Glauben vertieft. Es gibt Antworten auf diese Fragen. Gott sagt selten einfach: So ist das jetzt nun mal!
Was würdest du jemandem sagen, für den es eine Kluft zwischen Christsein und dem Leben im Alltag gibt?
Suche dir Gemeinschaft, Leute, die dich unterstützen und den gleichen Weg nehmen. Fixpunkte im Leben helfen extrem, um nicht plötzlich an den Punkt zu kommen, wo Gott keinen Platz mehr im Alltag hat. Ich frage mich nicht: Habe ich heute Lust, in den Gottesdienst oder in die Kleingruppe zu gehen? Ich mache es einfach.
Wie hörst du Gottes Stimme?
Nicht so eindeutig. Es ist bei mir eher ein Bauchgefühl oder der Friede, der über eine von vielen Optionen bei einer Entscheidung kommt. Und – das ist vielleicht halt nicht so sexy – durch die Bibel. Gerade bei der Frage, wie man mit seinen Mitmenschen umgehen soll, kann man die Antwort oft einfach nachlesen (lacht). Gott spricht zu mir, weil ich viel davon, was er in der Bibel sagt, schon verinnerlicht habe. Es muss nicht immer Blitz und Donner oder eine Schrift an der Wand sein.