Leiten mit Leidenschaft

Beteiligung und Mitverantwortung gehören zur Kultur der VBG. Als Angestellte investieren wir bei der Zusammenarbeit mit unseren zahlreichen Ehrenamtlichen viel in die Vermittlung der Vision. Umso mehr hat es bei der praktischen Umsetzung Raum für individuelle Präferenzen. Das gilt auch in Bezug auf die Art und Weise der Führung. Trotzdem sollte die Leitungstätigkeit von allen, die sich in der VBG engagieren, von einem gemeinsamen «Geist» geprägt sein.

Als Teil einer christlichen Bewegung und als Einzelpersonen, die ihr Leben in die Nachfolge von Jesus Christus gestellt haben, wollen wir unsere Aufgaben im Geist des Evangeliums wahrnehmen. Dieses Verständnis von Leiterschaft bedeutet in erster Linie, dass wir nicht herrschen, sondern dienen. Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und manchmal auch zu leiden. Viele, die nach einer Leitungsposition streben, haben jedoch – bewusst oder unbewusst – ein Machtmotiv. Es ist bezeichnend, wie Jesus reagiert, als seine Jünger in einen Streit darüber geraten, wer von ihnen der Grösste sei (Lukas 22,25-26): «Die Könige herrschen über ihre Völker und die Vollmacht über sie haben, lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Grösste unter euch soll werden wie der Jüngste und der Führende soll werden wie der Dienende.»

In der Klosterregel des Heiligen Benedikt findet dieser Ausspruch eine konkrete Anwendung. Im dritten Kapitel geht es darum, dass der Abt wichtige Entscheidungen mit allen Mönchen besprechen soll. Dabei hat das Wort der jüngsten Mönche besonderes Gewicht. «Dass aber alle zur Beratung zu rufen seien, haben wir deshalb gesagt, weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist», heisst es in der Regel.

Auf die Jüngeren hören

Dr. Johannes Eckert, Abt der Benediktinerabtei St. Bonifaz, erklärt: «Der Abt soll ihren Rat zum einen deshalb einholen, weil die Jüngsten dem Ideal noch sehr nah sind. Wir sprechen im Kloster vom ‹Novizen-Eifer›. Die Neueintretenden erinnern daran, wie Mönchtum ‹richtig geht›. Zum anderen ist es ein weiterer Vorteil, dass die Jüngsten Routineabläufe hinterfragen. ‹Warum betet ihr das? Warum sind bestimmte Arbeitsprozesse so?› Auf diese Weise werden Fehler aufgedeckt, die sich über lange Zeit eingeschlichen haben.»

Ein dienender Umgang mit Macht ist die grösste Chance und gleichzeitig die grösste Herausforderung eines christlich geprägten Leitungsverständnisses. Jesus selbst ist dabei das Vorbild, wie Paulus im berühmten «Christus-Hymnus» schreibt (Philipper 2,5.7-8): «Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er entäusserte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.»

Im Prinzip wird von christlichen Leitenden nichts anderes erwartet als von allen, die Jesus Christus nachfolgen. Leitungspersonen haben aber eine besondere Verantwortung und Vorbildfunktion, und damit eine besondere Gefährdung. Der «Gehorsam bis zum Tod» ist eine radikale Absage an die eigennützige, selbstherrliche Ausübung von Macht – im Vertrauen darauf, dass die eigene Identität letztlich auf dem liebenden Zuspruch von Gott beruht. Was das konkret bedeuten kann, beschreibt Henri Nouwen1 in seiner Auslegung der Geschichte von Jesus in der Wüste (Matthäus 4,1-11). Jede der Versuchungen, so Nouwens Ansatz, beleuchtet einen Aspekt des negativen Machtmotivs: Die Versuchung, bedeutungsvoll und unentbehrlich zu sein (Steine in Brot verwandeln, um die Hungernden zu sättigen); die Versuchung, beliebt zu sein und Eindruck zu machen (sich vor den Augen des ganzen Volkes vom Tempel stürzen und aufgefangen werden) und die Versuchung, mächtig zu sein (herrschen über alle Reiche der Welt). Je mehr sich eine Leitungsperson dieser Versuchungen bewusst ist und gelernt hat, mit Gottes Hilfe damit umzugehen, desto besser.

Die Versuchungen der Macht

Im Führungsalltag lassen sich die Versuchungen der Macht mit Gegenmassnahmen in Schach halten. Zum Beispiel: Von Anfang an den Blick offen zu halten für Personen, die dereinst meine Aufgaben übernehmen könnten, ist nicht nur sinnvoll, sondern erinnert mich auch daran, dass ich ersetzbar bin. Lob konsequent an mein Team weiterzugeben und die Leistungen von anderen in den Vordergrund zu stellen, schafft nicht nur eine wertschätzende Atmosphäre, sondern bewahrt mich vor Hochmut. Aufgaben und die dafür notwendigen Kompetenzen zu delegieren, entlastet mich nicht nur, sondern bewahrt mich davor, ein Kontrollfreak zu werden. Wenn ich mich als Leitungsperson am «heruntergekommenen» und gekreuzigten Christus orientiere, kann ich auch leichter zu eigenen Fehlern, Schwächen und Begrenzungen stehen. Ich lebe vom Ja Gottes und muss nicht andauernd beweisen, dass ich wichtiger bin als andere. Anselm Grün2 schreibt dazu: «Wer andere führt, soll immer wissen, dass er auch nur ein Mensch ist, dass er von der Erde genommen ist und dass er ganz irdische Bedürfnisse hat. Wer um seine eigenen Abgründe weiss, der wird sich nie über andere stellen.» Der Blick in unsere eigenen Abgründe – der Blick auf unsere Hartherzigkeit, unseren Widerwillen, unsere unaufrichtige Liebe – macht uns bewusst, dass Gottes Werk in uns selbst noch nicht zu Ende ist. Busse und Umkehr sind deshalb wichtige Elemente der persönlichen Spiritualität, gerade bei Führungspersonen. Gleichzeitig dürfen wir wissen, dass Gottes Kraft in besonderem Masse dort wirkt, wo wir unzulänglich sind und Schwächen haben. Thomas Härry spricht in diesem Zusammenhang davon, dass nicht nur unsere Begabungen ein Geschenk Gottes sind, sondern auch unsere Grenzen. Im Buch «Echt und stark» beschreibt er, wie sich die Mitglieder eines Leitungsteams einmal gegenseitig zu ihren individuellen Beschränkungen gratulierten: «Thomas, ich stosse mit dir auf deine Unfähigkeit an, organisieren zu können. Ich stosse mit dir darauf an, dass du handwerklich ungeschickt bist und von Technik nichts verstehst.» Sein Fazit: «Es war ein unglaublich befreiender Moment für uns alle. An all diesen Stellen durften wir aufatmen und anderen, besser begabten Menschen Platz machen, damit sie unsere Schwachheit mit ihrer Stärke ausgleichen konnten.»

Das Geschenk der eigenen Grenzen

Andere zu führen bedeutet immer, zuerst sich selbst zu führen und mit den eigenen Gedanken, Gefühlen, Bedürfnissen und Leidenschaften zurecht zu kommen. Daraus wachsen die individuellen Schwerpunkte des eigenen Leitungsstils: Wie kann ich andere ergänzen, und wo brauche ich selber Ergänzung? Wie stelle ich ein Team zusammen, damit verschiedene Begabungen zum Tragen kommen können? Wie erweise ich mich als vertrauenswürdig – dass ich es gut meine, mein Wort halte, ehrlich und zuverlässig bin? Wie schaffe ich eine Atmosphäre der Wertschätzung? Wie kann ich die mir anvertrauen Menschen ganzheitlich fördern – in ihrer Sachkompetenz, in ihrem Umgang mit anderen, in ihrem persönlichen und geistlichen Leben? Diese Fragen sind aus meiner Sicht essentiell für eine positive Entwicklung sowohl im gemeinsamen Miteinander als auch im Engagement für eine bestimmte Sache.