«Hierarchie nicht negativ bewerten»

Was gilt es zu beachten, wenn man Verantwortung für andere Menschen trägt? Wie kann man andere für eine Sache begeistern – und was braucht es, um diese Sache auch zu Ende zu führen? Daniel Zindel gibt Tipps aus der Praxis und erklärt, welche Eigenschaften für die Leitungspersonen von morgen wichtig sind.

Daniel, was heisst «Führen» überhaupt?

Führen heisst, mit anderen zusammen einen Auftrag zu erfüllen. Wir wollen Ziele und Resultate erreichen, die der übergeordneten Vision entspringen. Allein geht das nicht, weil der Auftrag so gross und so komplex ist, dass es nur als Team machbar ist.

Können alle Persönlichkeiten führen?

Die Gründerpersönlichkeit der Organisation, die ich leite, brachte eine abgebrochene Berufslehre mit und eine aus heutiger Sicht sehr bescheidene Ausbildung als Heilsarmeeoffizier. Er hatte jedoch eine sehr klare Berufung von Gott, sein Leben «heimatlosen Kindern», wie er sie nannte, zur Verfügung zu stellen. Zu seiner Berufung stellte sich seine Hingabe. Und dann ist es oft wie bei James Bond: Wenn man eine neue Mission erhält, wird man mit allem Nötigen ausgerüstet.

In der Regel bringt man aber auch natürliche Begabungen zum Führen mit. Die können sehr verschieden sein: Analytische Fähigkeiten, hohe kommunikative Kompetenzen, Charisma, Fleiss, Intuition oder soziale Kompetenzen. Narzisstische Menschen, die nur sich selbst sehen, drängen auch in Politik und Führung. Sie können sich aber schlecht unter den Auftrag einer Sache stellen. Leider merken das alle anderen, nur sie selber nicht.

Was unterscheidet eine christliche 
Leitungsperson von einer säkularen?

Die christliche Führungsperson unterscheidet sich in Bezug auf das Führungshandwerk nicht von säkularen Personen. Es gibt keine christliche SWOT-Analyse 
(die Beurteilung der Schwächen und Stärken, der Chancen und Gefahren einer Organisation), sondern nur eine sorgfältige oder eine schludrige. Die christliche Leitungsperson nimmt jedoch ihre Arbeit mit und vor Christus wahr. Das hat verschiedene Konsequenzen. Zum Beispiel in der Unternehmensethik: Du kannst mit Christus nicht rote Linien überschreiten, nur um schwarze Zahlen zu schreiben. Oder auch in der Art und Weise, wie Entscheidungen gefällt werden. Die christliche Leitungsperson wird in Entscheidungen immer auch die Frage mitbedenken: «Gott, wie siehst du die Sache?»

Du bist auch als Coach tätig. 
Wo drückt Führungspersonen der Schuh?

Ein wichtiges Thema ist die Balance von Beruf und Familie. Gerade für Männer, die Führungsverantwortung tragen und in einem Jobsharing mit ihrer Frau stehen, ist die Herausforderung gross. Zudem brauchen sie ein «hartes Herz fürs Leben und ein weiches Herz fürs Lieben» (Jeremias Gotthelf). Das Meistern von hoher Komplexität ist ein Thema. In der sozialen Arbeit beobachte ich den Druck, möglichst alle Risiken zu eliminieren. Alles muss dokumentiert werden, jegliche Handlung muss begründet und auf ihre Evidenz hin basiert sein. Ein Riesenaufwand, der nur zum Teil durch die Digitalisierung abgefedert wird.

Aber eigentlich haben wir als Führungspersonen 
immer die grösste Aufgabe an uns selbst. Wir scheitern selten an unseren Pflichten und viel häufiger an uns 
selbst. Wie gehe ich mit (Versagens-)Ängsten um? Wie 
füh­re ich mich selbst? Wie setze ich um, was ich in der Theorie schon längst weiss? Das sind Fragen, die ich oft zu hören 
bekomme.

Was können Führungspersonen tun, um die Last 
auf verschiedene Schultern zu verteilen?

Ein Aha-Erlebnis war für mich die biblische Begegnung von Mose und Jethro. Der Schwiegervater beobachtete seinen gestressten Schwiegersohn bei der Rechtssprechung und sagte zu ihm: «Du bist völlig erschöpft, du und das Volk, das bei dir ist, denn die Aufgabe ist zu schwer für dich, du kannst sie nicht allein erfüllen» (Exodus 18,18). Wenn wir alles selbst schultern und am Limit laufen, setzen wir auch unsere Umgebung gewaltig unter Druck.

Auf verschiedene Schultern verteilen? Zuerst musst du welche haben! Man muss zuerst die Lust an der Vision in die Herzen der Leute pflanzen, dann stellen sie ihre Schultern zur Verfügung. Gerade im ehrenamtlichen Engagement ist die Sinnhaftigkeit der Aufgabe extrem wichtig – neben dem Gemeinschaftserlebnis (und der Möglichkeit, einen zukünftigen Freund zu angeln). Wichtig ist dann aber auch, dass Mitarbeitende nicht nur eine Arbeit erledigen müssen, sondern Verantwortung bekommen. Und mit der Verantwortung sollten Kompetenzen verbunden sein und ein Gestaltungsraum. Partizipation heisst immer: Ein Teil von mir ist in diesem Projekt. Dann blühen wir auf und entwickeln uns.

Im Moment geht der Trend eher hin zu flachen 
Hierarchien. Wie bewertest du das?

Hierarchie kommt von hieros archos – die «heilige Ordnung». Wir sollten Hierarchie nicht negativ besetzen! Wenn Menschen zusammen einen Auftrag erfüllen, braucht es minimale Strukturen: Wie fällen wir Entscheidungen? Wer steht am Schluss gerade? Gibt es Regeln und wer setzt diese durch, so dass bei einer Teamsitzung der erste nicht wieder gehen muss, bevor der Letzte eingetrudelt ist? Eine flache Hierarchie setzt viel Kreativität und Eigenverantwortung frei. Sie kann aber auch so flach sein, dass die Resultatorientierung flach herauskommt! Wir diskutieren dann nur noch steil und endlos. Nicht zu vergessen: Wer zuoberst auf der Hierarchiestufe steht, übernimmt die Verantwortung, weise und weitsichtig Macht zum Wohl des Auftrags und aller Teammitglieder zu gestalten.

Blicken wir in die Zukunft. Welche Kompetenzen 
brauchen die Führungskräfte von morgen?

Theorie und Wissen sind jederzeit abrufbar. Können und Kompetenzen müssen schon aufgebaut werden, aber das lässt sich lernen wie das Gitarrenspiel. Noch wichtiger scheint mir, dass die Führungskräfte von morgen Charakter haben. Sie bringen Haltungen wie Humor, Hingabe, Demut, Beharrlichkeit, Selbstbewusstsein und Sorgfalt für ihre Mitarbeitenden mit. Dabei sind sie nicht abhängig von Menschen, sondern von ihrem Meister, Jesus Christus.

Was rätst du jungen Menschen, die erste Führungserfahrungen sammeln?

Super, das ist wie beim Segeln! Übung macht den oder die Meister/in. Man kann noch so viel darüber lesen, erst in Wind und Wellen lernt man es. Mache in deiner Führung Fehler, am besten nicht immer dieselben. Frag nach jedem Fehler: Was kann ich daraus lernen? Und frag nach jedem Erfolg: Was kann ich daraus lernen? Permanente Lernfähigkeit ist eine Grundhaltung von Leitenden! Noch etwas: Es gibt ein veraltete Wort, die «Amtsgnade.» Damit ist nicht nur gemeint, dass ein (Führungs-)Amt die Person macht und fordert, sondern dass Gott einen besonderen Segen in und mit dem Leitungsmandat für dich bereit hält. Eine Führungsaufgabe zu übernehmen ist der beste Weg, persönlich, geistlich und führungsmässig zu wachsen.

Welchen Stellenwert hat Mentoring für aktive und zukünftige Führungspersonen?

Als Odysseus in den trojanischen Krieg aufbrach, übergab er seinen Sohn Telemachos Mentor, seinem Freund und Altersgenossen. Mentor war eine Art «väterlicher Götti». Wenn es in einer Organisation genug Ressourcen an mütterlich-väterlicher Ermutigung und fachlichem Rat durch Vorgesetzte oder Kollegen gibt, passiert Mentoring und Coaching de facto in house. Ergänzend dazu kann oder muss man sich manchmal Unterstützung von aussen holen.

Was gilt es zu beachten, wenn ich mich als Mentorin oder Mentor in eine Person investiere?

Wir erinnern uns an Odysseus und seinen Sohn. Nach der griechischen Mythologie schlüpfte manchmal die Göttin Athena in die Gestalt des Mentors, wenn sie ihrem Schützling Odysseus oder dessen Sohn mit Rat und Tat zur Seite stehen wollte. Mein Gebet ist es, dass Gott durch mich als Mentor hindurchscheint.

Ziel meines Mentorings ist es, Führungskräfte so zu begleiten, dass sie immer mehr den lebendigen Gott als eigentlichen Mentor entdecken: «Wem es unter euch aber an Weisheit fehlt, der erbitte sie von Gott, der allen vorbehaltlos gibt und niemandem etwas zum Vorwurf macht» (Jakobus 1,5). Lernen, wie man von Gott lernen kann, ist das beste Gegenmittel gegen jene Abhängigkeiten von Menschen, die Mentoring bisweilen verursacht.

Daniel Zindel ist seit 27 Jahren Gesamtleiter und theologischer Leiter der Stiftung Gott hilft. Er ist nebenberuflich als Coach und in der Paarberatung für Führungspersonen tätig. Zum Ausgleich betätigt er sich als Buchautor («Hüttenzeit»).