Der Glaube an Jesus Christus sensibilisiert Christen für die Nöte der Gesellschaft. Mit seiner Botschaft vom «Reich Gottes» zielt Jesus nicht nur auf veränderte Individuen, sondern auf Menschen, die durch authentisch gelebtes Christsein ihre Kultur zum Positiven verändern.
Aufmerksame Zeitgenossen lesen immer wieder Unbehagliches im Blick auf die Dynamik in mittel-europäischen Gesellschaften. Am 21. August 2018 sprach der Politikwissenschafter Heinrich Oberreuter in der Neuen Zürcher Zeitung über unsere «sinnentleerten Bequemlichkeitsdemokratien», die sich durch ein «wachsendes Missverhältnis zwischen Tradition und Moderne, Heimatbedürfnis und globaler Fortschrittslogik» auszeichnen. Das führt nach seiner Überzeugung zu zunehmender Aggressivität in den öffentlichen Debatten, geprägt durch Emotionalisierung und Skandalisierung. Von allen Seiten werden vor allem Gefühle, Ängste und Kränkungen ins Feld geführt. Für Oberreuter bleibt da kaum noch Raum für ruhige, nüchterne Überlegungen. Es entstehen Lücken für ungebetene politische Kräfte. Das mag für Deutschland in grösserem Ausmass zutreffen als für die Schweiz.
Abbröckelnde Solidarität
Jürgen Habermas, einer der bekanntesten Philosophen und Soziologen der Gegenwart, sorgt sich, wenn das soziale Band reisst, das eine Gesellschaft zusammenhält. Er befürchtet eine Verwandlung der Bürger wohlhabender und friedlicher liberaler Gesellschaften in selbstinteressiert handelnde Individuen, «die ihre subjektiven Rechte nur noch wie Waffen gegeneinander richten.» Das führt zu einem Abbröckeln der Solidarität untereinander. Kein freiheitlicher Staat kann seine Bürger zwingen, zugunsten des Gemeinwesens zu handeln, wenn persönliche Nachteile damit verbunden sind. Habermas bezeichnet sich als religiös unmusikalisch, gesteht aber freimütig zu, dass die jüdische Gerechtigkeitsethik und die christliche Liebesethik das Fundament unserer abendländischen Gesellschaft massgeblich geprägt haben: Würde und Freiheit des Individuums, solidarisches Zusammenleben, autonome Lebensführung und Emanzipation, individuelle Gewissensmoral, Menschenrechte und Demokratie.
Gesellschaften und ihre Grundwerte werden durch Menschen geprägt. Das «Strickmuster» einer Gesellschaft wird nur dann nachhaltig verändert, wenn viele Einzelne ihre Werte und ihr Handeln ändern. Wie lässt sich das ohne ethisch fragwürdige Methoden wie Zwang oder Manipulation erreichen? Die Evangelien und Briefe des Neuen Testamentes drehen sich zu einem erheblichen Teil um die tiefgreifende Veränderung von Menschen. Diese betrifft die ganze Breite des Lebens. Entscheidend für diese verändernde Dynamik ist das Evangelium von Jesus Christus und keine manipulative Instanz. Diese geheimnisvolle Kraft sollen die Menschen in unserer multireligiösen und multikulturellen Gegenwart kennenlernen. «Evangelisation» ist der theologische Ausdruck für dieses Vorhaben – ein vielschichtiger und belasteter Begriff. An der Weiterbildungswoche für die VBG-Mitarbeitenden 2017 hat uns Matthias Clausen drei Stichworte mitgegeben, die eine gesunde Art des Evangelisierens kennzeichnen: Beherzt, behutsam, beharrlich. Pointierter kann man es kaum ausdrücken. Bei Evangelisation geht es aber um wesentlich mehr als um eine persönliche Beziehung Einzelner zu Jesus Christus.
Der bekannte New Yorker Pastor Timothy Keller formulierte es einmal so: «You are culture makers.» Durch die Art und Weise, wie wir mit Menschen kommunizieren und umgehen, wie wir unsere Arbeit verrichten oder uns künstlerisch ausdrücken, prägen wir die Kultur mit, in der wir leben. Wenn eine ausreichende Anzahl von Menschen ihr alltägliches Leben durch eine persönliche Beziehung mit Jesus Christus transformieren lässt, dann prägt das ein Dorf, eine Stadt, ein Land. Keller hat die Vision, dass dadurch Städte zum Blühen gebracht werden, dass ihr «Strickmuster» verändert wird. Ist das nur ein unrealistischer Traum?
Nach der Melodie Gottes tanzen
Dass alle Lebensbereiche vom Evangelium durchdrungen werden, ist ein Kernanliegen der VBG. Dass viele Menschen vom Evangelium angesteckt werden, ist ein Kernanliegen Jesu. Dafür engagieren wir uns in der Arbeit unter Schülern, Studierenden, Berufstätigen und durch die vielfältigen Angebote in Moscia und Rasa. Einkehrzeiten im Tessin unterstützen die persönliche Ausrichtung in einer hektischen Zeit. Mit Standaktionen machen sich VBG-Schülergruppen bemerkbar. VBG-Gruppen an Hochschulen laden zu öffentlichen Hörsaalvorträgen ein. Wir engagieren uns seit sechs Jahren unter jungen Berufstätigen («enVie») und gründen neue Fachkreise. Menschen in der Schweiz sollen immer deutlicher die Melodie Gottes hören und danach tanzen lernen, wie es Bernhard Ott in seinem inspirierenden Artikel ausdrückt. Das wird nicht spurlos an unserer Gesellschaft vorbeigehen. Soll es auch nicht!