Wir leben in einer Zeit, in der Wahrheitsanspruch als Machtstreben verstanden wird. Zu verdanken ist dies auch der postmodernen Religionskritik. Trotzdem hat sie ihre Berechtigung, weil sie den Blick schärft für den Abgrund in unserem eigenen Herzen.

Wenn Christen über das Thema Wahrheit sprechen, denken sie dabei an Dinge wie die Historizität der Auferstehung oder den Wert rationaler Argumentation. Die postmoderne Kritik hat einen anderen Fokus. Ihr geht es bei der Wahrheitsfrage nicht um Rationalität oder Historizität, sondern um Moral. Die Argumentation: Was die Menschen als wahr akzeptieren, formt ihr Denken und Handeln.

Die Wahrheitsfrage ist deshalb so hart umkämpft, weil sie enorme Auswirkungen auf das konkrete Leben hat. Besonders gut lässt sich dies an der Diskussion um Lehrpläne und Schulfächer aufzeigen: Als Spitzen eines weltanschaulichen Eisbergs machen sie die Konsequenzen bestimmter «Wahrheiten» plötzlich sichtbar.

Ein Machtspiel

Wenn es kein verbindliches Referenzsystem gibt, dann verkommt das gesellschaftliche Miteinander zum Machtspiel. Es ist ein grosser Verdienst der postmodernen Kritik, dass sie dieses Übel erkannt und benannt hat: Wir leben in einer Zeit, in der Wahrheit käuflich ist. Wer lauter ruft, hat recht. Wer die besseren Lobbyisten, Werberessourcen und Kommunikationskanäle besitzt, sagt, was Sache ist.

Das ist auch die Realität vieler VBG-Gruppen: Um im Blätterwald der Schul-Pinwand nicht unterzugehen, müssen unsere Plakate mehr Style und Fläche als die Konkurrenz haben. Das ist nicht per se schlecht. Aber es ist eine Herausforderung, in einem solchen Wettbewerb echt und fair zu bleiben.

Es ist eine traurige Ironie, dass die Gegenreaktion auf dieses Machtspiel selber zur repressiven Ideologie wird. Ein Beispiel: Nach Inkrafttreten eines neuen Antidiskriminierungsgesetzes sprach die California State University im akademischen Jahr 2014/2015 23 Gruppen der VBG-Schwesterbewegung Intervarsity den Status als anerkannte studentische Gruppe ab. Grund: Wenn sich Studierende in einem Leitungsteam engagieren wollten, mussten sie ein Glaubensbekenntnis unterschreiben. Mit diesem Schritt – so die Argumentation – würden Personen anderen Glaubens systematisch ausgeschlossen. An anderen amerikanischen Universitäten dauert der Rechtsstreit noch an.

Zweites Beispiel: Nach einer Verfügung des Bundesamtes für Sozialversicherungen erhielt die VBG ab 2014 – ebenso wie eine Reihe anderer christlicher Bewegungen – keine weiteren Fördergelder für die Jugendarbeit. Die Begründung lautete, dass bei der VBG die Glaubenspraxis, die religiöse Unterweisung und die Verbreitung der Glaubensgrundlage im Zentrum stehe, und nicht die Förderung von Jugendlichen. Eine Beschwerde beim Bundesgericht fand kein Gehör. Insbesondere im Bereich Schule hinterlässt der Entscheid ein grösseres finanzielles Loch.

Christlicher Machtanspruch?

Beide Fälle zeigen, wie Menschen den christlichen Wahrheitsanspruch als christlichen Machtanspruch auffassen. Hier müssen wir aber differenzieren. Vom christlichen Selbstverständnis her ist es Gott, der den Menschen sagt, wie sie leben sollen. Als Schöpfer kennt er die Bedürfnisse und Begrenzungen seiner Geschöpfe.

Gottes Wahrheit ist gleichsam die Bedienungsanleitung des Ingenieurs, der genau weiss, unter welchen Bedingungen sein Gerät gut funktioniert und wo es in Gefahr steht, zu überhitzen und einen Kurzschluss zu erzeugen. Das ist etwas kategorisch anderes, als wenn eine Gruppe von Menschen aufgrund persönlicher Präferenzen bestimmte Verhaltensnormen festlegt – und dann verlangt, dass alle anderen danach leben sollen.

Kein verkürztes Evangelium

Das Problematische an dieser Herleitung ist, dass sie für Menschen, die eine Existenz Gottes ausschliessen, keine Überzeugungskraft hat. Sollten wir also nicht nach anderen Begründungen für eine christliche Lebensweise suchen? Liesse sich nicht mit Argumenten aus Psychologie, Medizin und Soziologie belegen, dass unsere Moral allen gut täte? Wie schlimm ist es denn, wenn eine Gruppe von Menschen sagt, wie die anderen leben sollen – so lange es sich um vernünftige Menschen handelt, die für alle das Beste wollen? Wie beantworten wir diese Fragen? Es wäre so leicht, einfach Nein zu sagen: Nein, es ist nicht schlimm. Unsere Absichten sind doch gut. Wo ist das Problem?

Das Problem sind wir. «Der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen», schreibt Alexander Solschenizyn. Die Frage nach der Moral ist eine der grössten Versuchungen für Christinnen und Christen.

Die Versuchung liegt darin, statt Busse, Vergebung und Umkehr eine abgekürzte Version des Evangeliums zu predigen, in der nicht Gott, sondern ein bestimmtes Verständnis von «christlichen Werten» im Zentrum steht. Es ist die Versuchung, dem Splitter im Auge des Nächsten mehr Beachtung zu schenken als dem Balken im eigenen (Lukas 6,41).

Wenn wir die echten Übel dieser Welt angehen möchten, dann fängt das immer mit dem Übel in unserem eigenen Herz an. Wir müssen Busse tun für unsere Überheblichkeit und Unbarmherzigkeit. Erst das macht uns offen für die berührende Liebe von Jesus Christus. Diese Liebe wird Heilung, Veränderung und Erneuerung schaffen – im persönlichen Leben genauso wie in der Gesellschaft.